Monster, Göttinnen, Caipirinha und Dinosaurier haben in der zweiten Nacht der Paraden das Sambódromo Marquês de Sapucaí in Rio de Janeiro bevölkert. Abgesehen von den beeindruckenden Paraden wurde einmal nicht mit Gesellschafts- und Politkritik gespart.
Unidos da Tijuca
Unidos da Tijuca hat die zweite Paradenacht der Elite-Sambaschulen Rio de Janeiros eröffnet. Sie hat den Schauspieler, Schriftsteller, Direktor und Komödiant Miguel Falabella geehrt. Der 61-Jährige sprach hingegen sichtlich bewegt von einer Ehrung aller Komödianten.
“Das Theater ist meine Religion“ lautete das Motto der Front-Kommission. Sie hat die Kunst als Ritual dargestellt. Mit dem “Abre alas“ in Form eines riesigen Schiffes wurde die Kindheit des Humoristen veranschaulicht und wie dieser in die Literatur eingetaucht ist und seine Liebe zum Schreiben entdeckt hat. Entstanden sind daraus etliche Werke, von Theaterstücken bis hin zu Fernsehserien und Novelas. Einige von ihnen sind in den Alas und allegorischen Wagen symbolisiert worden.
Ein Sektor war dem Karneval gewidmet, einem weiteren Steckenpferd Falabellas. Der war selbst bereits als Carnevalesco aktiv, ist bei Paraden mitmarschiert und Autor von Enredos. Statt eines einfachen Karnevals hat dieser bei Unidos da Tijuca jedoch die Form eines Musicals angenommen.
Dieses Mal ist bei Unidos da Tijuca alles glatt gelaufen. Im vergangenen Jahr war bei einem der allegorischen Wagen der Sambaschule ein Aufbau eingestürzt. Mehrere Menschen wurden dabei verletzt.
Portela
Portela hat im vergangenen Jahr mit ihrem Spektakel über das Wasser die begehrte Trophäe gewonnen. Auch in diesem Jahr hat sie wieder eine eindrucksvolle Parade aufgeführt. Bei ihrem Auszug aus dem Sambódromo Marquês de Sapucaí hat das Publikum stehend Beifall geklatscht und lauthals das Sambaenredo mitgesungen.
Erzählt hat die traditionsreiche Sambaschule die Geschichte der Holländer, die im 17. Jahrhundert die Region um das brasilianische Recife besiedelt haben. Aufgenommen haben sie dort ebenso aus Europa fliehende jüdische Familien. Später wurden die Holländer von den Portugiesen geschlagen. In der Erzählung Portelas sind sie daraufhin nach Nordamerika gezogen und haben dort den Grundstein für New York gelegt.
Anschaulich umgesetzt wurde das Thema mit Alas, die den trockenen Nordosten Brasiliens darstellten, Windmühlen, Zuckerrohr und die Stationen der Holländer. Beeindruckend waren ebenso die allegorischen Wagen. Ein gigantisches Gürteltier diente als Wagen für den holländischen Prinzen. Der von unten grün beleuchtete Wagen ließ dabei das Gürteltier scheinbar durch eine Wiese schreiten. Ein anderer Wagen präsentierte die Töpferkunst Pernambucos. Eine herausragende Szenerie ist Portela auch mit dem der Allegorie gelungen, mit der die Ankunft der Holländer in Nordamerika veranschaulicht wurde. Er zeigte riesige Büffel im Schnee, Tipis der nordamerikanischen Indianer und Holzhäuser.
Mit dem letzten Wagen deutete Carnevalesca Rosa Magalhães auf die Aktualität des Themas hin. Er repräsentierte den Aufbau New Yorks durch die Einwanderer, während an der Basis des Wagens in Schlauchbooten Flüchtlinge von heute zu sehen waren. Unter die Flüchtlinge hatte sich auch Magalhães gemischt, weil eben alle irgendwie Einwaderer seien, wie sie sagte.
União da Ilha do Governador
Carnevalesco Severo Luzardo Filho hat versprochen, mit der Parade der União da Ilha do Governador das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Aufgetischt wurden die kulinarischen Köstlichkeiten Brasiliens, die durch die Vermischung der Kulturen der indigenen und afrikanischen Völker sowie der Europäer entstanden sind. Es war aber auch eine Geschichte über die “Früchte der Erde“.
Insgesamt 3.300 Komponenten haben für einen gelungenen Auftritt gesorgt. Sie sind in den Alas als Weizen, Weintrauben, Sojabohnen, Kaffee und Reis aufgetreten. Die weiten Röcke der Baianas waren mit Bananen geziert, die in der brasilianischen Küche in den verschiedensten Formen verwendet werden. Ein eigener Ala war auch dem Dendê-Öl gewidmet. Das wird aus den Früchten einer Palme Westafrikas gewonnen und spielt vor allem im Nordosten Brasiliens eine wichtige Rolle in der Küche und Produktion.
Ein allegorischer Wagen zeigte das im Norden des Landes typische Gericht “Pato no tupuci“, für das eine Ente in “tupuci“ geschmort wird. Der gelbliche Saft wird aus einer bestimmten Art von Maniokwurzel gewonnen. Als Nachtisch präsentierte União da Ilha do Governador eine Allegorie in Form einer Schokoladentorte, auf der 110 Chefköche thronten. Verziert war der Wagen ebenso mit Kakaofrüchten. Der in Brasilien angebaute Kakao hat im vergangenen Jahrhundert vor allem im Bundesstaat Bahia für einen wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt.
Nicht fehlten ebenso typische brasilianische Snacks und Getränke wie die “Coxinhas“ und “Brigadeiros“, der Caipirinha und Guaraná.
Acadêmicos do Salgueiro
Mit einer überwältigenden Darbietung hat Acadêmicos do Salgueiro die schwarzen Frauen geehrt. Sie hat die Samba-Avenida in ein Meer von Gold, Orange und Rot getaucht und gewaltige Allegorien präsentiert.
Mit afrikanischer Garten Edens war der erste der allegorischeen Wagen betitelt. In rot und orange getaucht beherbergte er die große Mutter der Menschheit, auf deren Bauch mit Led-Lämpchen bestückte Menschen saßen.
Während der erste Teil der Parade Frauen als Kämpferinnen sowie als afrikanische und ägyptische Göttinnen gezeigt hat, war ein weiterer Teil den schwarzen Frauen als Unternehmerinnen und Ernährerinnen ihrer Familien gewidmet.
Vertreten waren ebenso Persönlichkeiten wie die Poetin Auta de Souza (1876-1901) und die Journalistin, Professorin und Politikerin Antonieta de Barros. Die 1901 im Süden Brasiliens geborene Antonieta hat das “movimento negro“ (Schwarzenbewegung) inspiriert und war aktive Frauenrechtlerin. In den Geschichtsbüchern wird sie indes verschwiegen. Eine weitere der starken, schwarzen Frauen war die Schriftstellerin Carolina de Jesus, die durch ihr “Tagebuch einer Favelada“ bekannt wurde.
Auch wenn viele der Alas und Allegorien nur schwer zu verstehen waren, hat Acadêmicos do Salgueiro dennoch eine glänzende Arbeit geleistet.
Imperatriz Leopoldinense
Imperatriz Leopoldinense hat die Museen der Welt lebendig werden lassen, allen voran das größte Museum der Naturgeschichte und Anthropologie Lateinamerikas, das Museu Nacional in Rio de Janeiro. Das feiert dieses Jahr sein 200stes Jubiläum.
Es war eine gelungene Parade. Die hat nicht nur mit ihren überwältigenden Allegorien und erstaunlichen Darstellungen überzeugt. Sie hat auch die Lust an einem Museumsbesuch geweckt. Mit 30 Alas, sechs allegorischen Wagen und 2.650 Komponenten hat Imperatriz Leopoldinense einen Streifzug durch die Geschichte des Nationalmuseums geboten und ebenso durch dessen Sammlungen.
Aufmarschiert sind die Seesterne aus dem Nationalmuseum, das eine der umfangreichsten Seesternsammlungen Lateinamerikas beherbergt, Korallen, antike Töpferwaren, Kunstwerke der indigenen Völker Brasiliens, Goldschätze der Inkas und viele andere Museumsstücke.
Das Nationalmuseum beherbergt ebenso eine der größten Fossiliensammlungen Lateinamerikas. Dargestellt wurde dies mit einer Allegorie mit sich bewegenden Dinosaurierskeletten. Nichts stand still im Museum. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Die archäolotischen Schätze antiker Zivilisationen sind in der Museumsnacht lebendig geworden. Mumien und Skulpturen tanzten.
Zu Zwischenfällen ist es bei der Parade der Imperatriz Leopoldinense nicht gekommen. Dennoch gab es bange Minuten. Gleich zu Beginn kam der Zug aus nicht ersichtlichen Gründen ins Stocken. Letztlich hat es die Sambaschule aber doch noch geschafft, rechtzeitig ihre Darbietung abzuschließen, ohne das Zeitlimit zu überschreiten.
Beija-Flor de Nilópolis
Beija-Flor de Nilópolis hat für ein schockierendes Spektakel gesorgt und Dramatik auf die Samba-Avenida gebracht. Sie hat es gewagt die Gewalt, die Armut, die enorme Ungleichheit, das marode Gesundheitssystem und die fehlende öffentliche Sicherheit darzustellen und dabei die Frage gestellt, wer das Monster ist. Ist die von Frankenstein geschaffene Kreatur das Monster oder ist es der Schöpfer selbst? Frankenstein kann dabei stellvertretend als die Regierung oder regierende Klasse verstanden werden.
Immer wieder tauchte die Habgier und Ausbeutung in Form von Ratten auf. Von einer gigantischen Ratte wurde auch das Gebäude des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras gezogen. Das thronte über überfüllten Gefängniszellen, in denen die Häftlinge mit Handys telefonierten. Über ihnen feierten die Verbrecher in Anzügen, nahmen ein Geldbad und zeigten sich sorglos. Petrobras ist in einen der größten Korruptionsprozesse verwickelt, bei dem ein Schmiergeldschema von dutzenden, hochrangigen Politikern und den größten Baukonzernen und Fleischkonzern des Landes aufgedeckt wurde.
Während mit der Korruption das Geld unter den Mächtigen verteilt wird, fehlt dieses dem Land, um für ein ausreichendes Bildungs- und Gesundheitssystem zu sorgen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und den Menschen eine Basisversorgung zu bieten. Dargestellt wurde dies, indem sich das Petrobrasgebäude plötzlich in eine Favela verwandelt hat.
An Dramaturgie fehlte es auch nicht bei der Allegorie der sich selbst überlassenen Bevölkerung, der realitätsnah den Alltag in einer Favela imitierte, mit über ihren toten Kindern weinenden Müttern, tödlichen Querschlägern, im Müll wühlenden Jungen und Mädchen und wegen Schußwechseln geschlossenen Schulen. Eine andere Form der Gewalt kommt durch die Intoleranz, veranschaulicht durch ein Fußballstadion und rivalisierenden Fanclubs. Gemeint war damit aber ebenso die Intoleranz gegenüber allen, die aus dem herkömmlichen Bild der Gesellschaft fallen, wie Homosexuelle, Transgender, Schwarze, Anhänger afrikanischer Religionen.
Auf ein wirkliches Happy-End wie eigentlich bei den Paraden üblich, hat Beija-Flor verzichtet. Mit ihrem letzten Wagen hat sie lediglich dazu aufgefordert, das Lieben zu lehren. Gekrönt war die Allegorie von einer Statue einer Indiofrau mit ihrem Kind und somit mit der Botschaft, sich wieder auf die wahren Werte des Lebens zu besinnen.
Mit ihrer Parade hat Beija-Flor einen Hilfeschrei ausgesendet. Alles nützt nichts, wenn das Volk nicht geliebt wird und stattdessen auf ihm herum getreten wird. Eine so harte Gesellschafts- und Politk-Kritik, wie von der Sambaschule präsentiert, ist für Brasilien ungewöhnlich. Das Publikum mag stellenweise schockiert gewesen sein. Die Zustimmung blieb aber nicht aus. Als die Parade schon beendet war, hat das Publikum noch minutenlang den Samba-Enredo Beija-Flors gesungen. Beim Auszug der Sambaschule haben viele zudem die Zuschauerränge verlassen, um hinter der Sambaschule herzuziehen.