Die Olympiade hatte längst angefangen, als die Brasilianer sie für sich entdeckt haben. In den Stadien wollen sie nicht nur bloße Zuschauer sein, sondern teilnehmen. Also wird gefeiert, lautstark angefeuert und zum Leidwesen der Athleten auch extrem Partei ergriffen, was mit unsportlichen Buhrufen und Pfeifkonzerten einhergeht. Das stößt mittlerweile nicht nur in anderen Ländern auf Kritik, sondern auch im eigenen Haus.
Vor allem von Fußballpartien zwischen Argentinien und Brasilien sind Buhrufe selbst während dem Abspielen der Nationalhymnen keine Seltenheit. Die ertönen dabei sowohl aus den Mündern der Argentinier wie auch der Brasilianer. Eine Rechtfertigung ist das allerdings nicht, dies auch auf die Austragung der olympischen Spiele zu übertragen.
Bei denen wurde nahezu keine Disziplin verschont. Getroffen hat es Tennisspieler, Bogenschützen und Schwimmer ebenso wie Leichtathleten. Besonders laut wurde die Kritik aber nach dem Vorfall vom Dienstag (16.).
Als bei der Siegeszeremonie zum Stabhochsprung Frankreichs Weltrekordhalter und Silbermedaillengewinner Renaud Lavillenie an der Reihe war, das Siegerpodest zu betreten wollten ebenfalls Buhrufe aufflammen.
Mit Zeichen gab der 22-jährige brasilianische Goldmedaillengewinner Thiago Braz da Silva zu verstehen, dass dies nicht angebracht ist. Es gab sie dennoch, wenn auch verhaltener als am Tag zuvor.
Da ist Lavillenie mit dem Stab in der Hand in der Arena gestanden und hat versucht, sich für den Sprung zu konzentrieren, während die Brasilianer mit lauten Buhrufen rücksichtslos versucht haben, ihn aus dem Konzept zu bringen.
Bei der Medaillenverleihung am Dienstag war dem französischen Spitzenathleten die Enttäuschung über die unwürdige Begleitung dieses eigentlich ehrenvollen Moments ins Gesicht geschrieben. Mit Tränen in den Augen stand er da, vor einem gnadenlosen Publikum.
Nicht nur IOC-Präsident Thomas Bach hat das Verhalten der Zuschauer verurteilt, sondern auch brasilianische Athleten haben dies getan. Braz soll nach der Zeremonie sogar versucht haben, seinen Rivalen zu beruhigen.
Selbst die Organisatoren haben mittlerweile, wenn auch äußerst spät, reagiert und über Ansagen mehrfach dazu aufgerufen, dass die Zuschauer doch bitte alle Sportler, egal welcher Nation, unterstützen sollten.
Reagiert hat auch der Pressesprecher des Komitees Rio-2016 Mário Andrada. Er hat am Montag (15.) die Pfeifkonzerte als “nicht tolerierbar“ bezeichnet und Kampagnen in den sozialen Netzwerken angekündigt. Dort halten sich die brasilianischen Fans auch nicht zurück.
Nachdem am Montag Lavillenie gegen den Brasilianer den Kürzeren gezogen hatte und auch die Volleyballmannschaft Frankreichs den Südamerikanern unterlegen ist, hat dies in den Netzwerken für Spott gesorgt. “Käsebrot ist besser als Croissant“, “Tchau Franzosen. Das Gold gehört uns“ sind nur zwei der vielen Beispiele, die über Twitter, Facebook und Co. verbreitet wurden.
Zu Publikumslieblingen werden indes nicht nur Athleten des Gastgeberlandes auserkoren. Kunstturnerin Simone Biles (USA), Rekordschwimmer Michael Phelbs (USA) und der Rekordläufer Usain Bolt (Jamaika) wurden ebenso lauthals angefeuert.
Dass sich der Wind dabei schnell drehen kann, haben die Tennisspieler Del Potro (Argentinien) und Novak Djokovic erlebt. Letzterer wurde von den Brasilianern während des Spiels bejubelt während Juan Martín Del Potro die Zuschauer gegen sich hatte. Nach dem Sieg des Argentiniers hat dieser hingegen stehenden Applaus geerntet.
Während in den internationalen Medien die Pfeifkonzerte einen breiten Raum einnehmen, bleiben sie in Brasilien nahezu außen vor. In einigen Printmedien und ebenso im Internet zeigen Artikel und vor allem Kommentare aber, dass nicht alle Brasilianer das Verhalten befürworten.
In den brasilianischen Fernsehmedien finden die Pfeifkonzerte hingegen kaum Erwähnung. Angeschnitten wurde das Thema in einer Sportsendung, die zu nachtschlafener Zeit um zwei Uhr morgens ausgestrahlt worden ist.
Da hat Ex-Stabhochspringerin Maurren Maggi eingeräumt, dass sie bei den olympischen Spielen in Peking 2008 oder bei anderen internationalen Wettkämpfen nie ausgebuht worden sei oder Ähnliches erlebt habe.
Ein wenig zeigten sich Diskussionsteilnehmer und Moderatoren der Sendung vom unsportlichen Verhalten des brasilianischen Publikums zwar betroffen. Sie machten sich aber schnell auf die Suche nach verteidigenden Argumenten.
Feststeht, dass die Brasilianer ihre eigenen Landsleute auf dem Siegerpodest sehen wollen und dabei keine Rücksicht auf andere Spitzensportler, die Rivalen “ihrer“ Athleten, nehmen.
Erklärungsversuche gibt es etliche, auch den, dass das südamerikanische Land eine Fußballnation ist, die ihre Mannschaften leidenschaftlich anfeuert und mangels Erfahrung dieses Verhalten nun auch bei der Olympiade zu Tage legt.
Aber auch die Medien selbst tragen zur Polarisierung bei, allen voran die großen Fernsehsender. Die berichten ausführlichst über “ihre“ Athleten, egal ob sie eine Chance auf Medaillen haben oder nicht, und lassen Sportlegenden wie Tennisstar Martina Hingis und andere unerwähnt.
Der selektiven Berichterstattung fallen dabei selbst Sportarten zum Opfer, an denen eigentlich auch Brasilianer teilnehmen. Dressurreiten, Ringen, Rugby und etliche andere Disziplinen werden wenn, dann nur am Rande erwähnt.
Den brasilianischen Lieblingssportarten Fußball, Volleyball, Beachvolley und auch Handball wird indessen ein breiter Raum gewidmet. Die sind es auch, die Zuschauer in die Stadien ziehen. Bei vielen anderen Disziplinen klaffen hingegen große Lücken in den Zuschauerrängen. Auch dazu gibt es etliche Erklärungsversuche.
Kurz vor Beginn der Sommerspiele hatte das Organisationskomitee Rio 2016 noch stolz verkündet, dass 84 Prozent der sechs Millionen Eintrittskarten verkauft worden seien. Stärker besetzt sind jedoch vor allem die Staden im “Parque Olímpico da Barra“, in dem die in Brasilien populäreren Sportarten ausgetragen werden.
Darüber hinaus ist er zentraler gelegen und gut an das öffentliche Nahverkerhssystem angebunden. Das “Centro Olímpico de Deodoro“ ist abgelegener, weniger gut zu erreichen, beherbergt statt Breitensport in dem südamerikanischen Land weniger beliebte Disziplinen wie den Reitsport, Bogenschießen und Kanufahren und leidet an Publikumsmangel.
Hinter den leeren Rängen steht aber auch ein organisatorisches Problem. Viele Zuschauer stehen wegen der Kontrollen noch in langen Schlangen vor den Stadien, während in diesen die Athleten schon antreten.
Verkauft worden sind auch “double headers“, Eintrittskarten für zwei oder mehr Veranstaltungen am gleichen Ort. Nicht alle Zuschauer bleiben aber während des Gesamtevents im Stadion, wie Rio 2016-Sprecher Mário Andrada erklärt hat.
Spekulationen gibt es ebenso darüber, ob die Käufer ihre Eintrittskarten teilweise nur dazu nutzen, um auf dem Olympiagelände zu streunen oder, ob sie diese vielleicht im Vorfeld gekauft später dann einfach das Interesse daran verloren oder kurzfristig umgeplant hätten. 30 Prozent des Kontingentes sind zudem an die “olympische Familie“ verteilt worden. Darunter fallen auch Sponsoren.
Vom Rio 2016 Komitee heißt es, dass die Stadien nicht voll seien, weil viele Zuschauer einfach nicht erscheinen würden. Für die Wettkämpfe am Dienstag im “Estádio Olímpico“ sind laut Rio 2016 Komitee 53.282 der 60.000 Platzkarten verkauft worden. Gefüllt war das Stadion dann aber nur zu einem Drittel, als die Athleten des Stabhochsprungs und der 110 und 1.500 Meter Läufe angetreten sind.
Nach den Plänen der Organisatoren hätte das Publikum gemischt sein sollen. Zum Zuge gekommen ist aber vor allem die Mittelschicht mit vollerem Geldbeutel. Das liegt nicht daran, dass die Eintrittskarten zu teuer sind.
Angeboten werden sogar welche für nur 40 und 70 Reais (umgerechnet derzeit etwa 11,50 und 20 Euro). Für eine Familie mit zwei Kindern werden daraus aber schnell 400 Reais, knapp die Hälfte eines Mindestlohnes, werden die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr dazu gerechnet.
Auch das Verkaufssystem hat eine Gleichstellung behindert, waren die Kartenkauf zunächst doch lediglich per Internet und mit Bezahlung per Kreditkarte möglich, die von den unteren Einkommensschichten kaum jemand hat.
Um die Stadien doch zu füllen, wurden später schnell noch per Los Eintrittskarten an das Heer der ehrenamtlichen Helfer verteilt. Das Komitee Rio 2016 sagt, das hätte nichts mit den leeren Zuschauerrängen zu tun, sondern sei eine ganz normale Praxis. Bekannt geworden sind auch Überlegungen, Tickets an Schulklassen zu vergeben.
In der zweiten Olympia-Woche sind dann plötzlich noch einmal 400.000 Eintrittskarten an den offiziellen Verkaufsstellen zur Verfügung gestanden, was ellenlange Warteschlangen an den Kassen zur Folge hatten. An Interesse scheint es nicht zu fehlen.
Sorgen bereiten den Brasilianern aber auch die Paralympics, die vom 7. bis zum 18. September ausgetragen werden. Von den für sie vorgesehenen zwei Millionen Eintrittskarten sind bisher lediglich 300.000 verkauft worden.
Auch fehlt dem Organisatonskomitee Geld in den Kassen, weil weniger Sponsoren als geplant sich an dem Sportereignis beteiligen und auch weil Teile des Geldes schon für die Olympiade ausgegeben worden sind, wie gemunkelt wird.
Die Justiz hat deshalb vorsichtshalber Staat, Munizipen und staatlichen Einrichtungen untersagt, dem Komitee Geld zu überweisen, es sei denn dieses legt seine Abrechnungen vor. Aber das ist ein anderes Kapitel.