Der Parque Estadual do Cantão heisst, 864 km2 geschützte Natur und eine unvergleichliche Biodiversifikation. Der am 14. 07. 1998 gegründete Park ist wie ein Delta, das von den Flüssen Rio Araguaia, Rio Javaés und Rio do Coco geformt wird. Letzterer trennt zwei unterschiedliche Ökosysteme – auf der einen Seite der Cerrado mit seinen verkrüppelten Bäumen, auf der andern Seite Amazonas-Regenwald. Die beiden Ökosysteme stehen sich direkt gegenüber – eine seltene Konstellation.
Wenn die Flüsse über ihre Ufer treten, steht der Wald unter Wasser. Im Westen des Bundesstaates Tocantins liegen hier 90.017 Hektar gut erhaltener Natur mit einer einzigartigen biologischen Vielfalt auf unserem Planeten.
“Normalerweise haben wir in einem Transit-Gebiet einen viel weicheren, lang gezogenen Übergang – die Natur verwandelt sich in der Regel langsam von einer Gestalt in die andere. Deshalb ist dies hier eine Ausnahme – das Ambiente ist klein, und das führt zu ökologischer Dichte. In diesem Gebiet haben sich sowohl Pflanzen wie Tiere beider Ökosysteme aneinander angepasst“, bestätigt die Biologin Silvana Campello.
Während der Hälfte eines Jahres findet das Leben in dieser Region unter Wasser statt. Die Flüsse verbinden sich mit mehr als 800 Seen und bilden so einen einzigen Wasserkörper. Für den Wald ist dies eine Jahreszeit der Fülle. “Wenn der Wald unter Wasser steht, überlebt er nicht nur, sondern entwickelt sich auch noch besonders gut – er treibt Blüten und bringt Früchte hervor“, sagt ein Ökologe.
Auf einer Spazierfahrt per Kanu erleben wir eine zauberhafte Welt. Wir gleiten durch das Wasser unter den uralten Baumriesen. Deren Spiegelung ist so ungetrübt perfekt, dass man Baum und Spiegelung nicht mehr unterscheiden kann. Der Biologe erklärt, dass wir in einer Höhe von sieben Metern über dem Boden an der Seite der Bäume vorüber gleiten. “Vor sechs Monaten wanderten wir hier unten, sieben Meter tiefer, entlang eines Pfades inmitten des Dschungels“ bemerkt er.
In der Regenzeit wird das motorisierte Kanu zum einzigen Transportmittel. In einem der wildesten und isoliertesten Teile des Parks hat man einen Beobachtungs-Hochstand eingerichtet, perfekt, um aus der Nähe das Verhalten der Bewohner dieses Gebietes verfolgen zu können: der Tiere. Der Wald hat sich den jährlichen Überschwemmungen bestens angepasst. Jetzt befinden sich die Nester der Vögel mitten über dem Wasser. In einer Baumkrone, an der wir vorüber schippern, entdecken wir zwei Cigana-Jungvögel (Opisthocomus hoazin) Sie scheinen erschrocken über unser plötzliches Auftauchen und ducken sich in ihr Nest. Auf Bildern der Biologin Silvana Campello sehen wir, dass diese Jungvögel lange Krallen besitzen, mit denen sie sich sehr gut an den Ästen festhalten können. Ausgewachsen, haben die Ciganas (Hoazins) etwa die Grösse eines Huhns – mit breiten Schwanzfedern, kleinem Kopf mit einer roten Krone.
Der Biologe George macht uns auf eine Gefahr aufmerksam, die wir beinahe übersehen hätten: “Bevor man in dieser Situation einen Ast oder Baumstamm berührt, schaut man erst einmal genau hin, ob es da keine Ameisen gibt. Und selbst für uns im Boot auf dem Wasser sind sie eine Gefahr. Denn, wenn der Wald überschwemmt wird, werden die Ameisen auf dem Boden vom Wasser erfasst – sie bilden dann schwimmende Bälle aus ihren ineinander verhakten Körpern. Und wenn man an einen solchen schwimmenden Ameisenball mit dem Kanu anstösst, erkennen sie sofort die erhöhte Position des Bootskörpers und klettern an ihm hoch – und dann, mein Freund, haben wir hier ein Problem, denn sie zwicken“!
Auch die Spinnen haben sich mit soviel Wasser abgefunden und sich arrangiert, indem sie ihre Existenz einfach ein paar Stockwerke höher verlegt haben. Wer aber unter dieser nassen Zeit leidet, sind die “Torrõezinhos“, so nennen sie hier die wenigen Bewohner dieser Gegend. In diesem Jahr ist der Rio do Coco mehr als 10 Meter gestiegen. Wir entdeckten ein Haus, von dem nur noch ein Teil des Daches aus dem Wasser ragte – eins der wenigen Anwesen innerhalb des Parks. Einer der antiken Bewohner des Gebiets ist mit dem Kommen und Gehen des Wassers vertraut. Manoel Gato zeigt uns, wie er seine wenigen Möbel und Objekte des Haushalts vor der Flut schützt. “Ich schaffe alles auf ein paar quer gelegte Bretter unter dem Dach – und dann fängt mein Leidensweg an. Und wenn’s dann vorbei ist, muss ich das ganze Haus wieder sauber machen und neu einrichten – und in den Möbeln haben sich inzwischen die Fledermäuse häuslich eingerichtet“.
Während der Regenperiode kommt Manoel Gato bei Freunden unter. Seit 22 Jahren lebt er mitten im Regenwald ganz allein und erzählt: “Einst, da war ich ein Jäger – heute bin ich ein Freund der Tiere. Nachdem ich mal drüber nachgedacht habe, über all das Leid des Tierchens, wenn es angeschossen und schliesslich erschlagen wird, da hab’ ich mich verändert“.
Die Wenigen, die ihn kennen, behaupten sogar, dass er mit den Tieren spricht. “Nun, es gibt einen Moment, da muss man mal mit jemandem reden, und wenn‘s ein Vogel ist – ich hab’ ein intimes Verhältnis mit der Natur“. Wenn es nach ihm ginge, würde dieses Heiligtum für immer unberührt bleiben. Und die Riesenotter (Pteronura brasiliensis) – eine Spezies, die von der Ausrottung stark bedroht ist – wäre gerettet. Die Gefahr des endgültigen Verschwindens dieser geselligen Tiere war noch viel grösser in den 80er Jahren – damals verfolgte man die Riesenotter wegen ihres Fells. “Der Riesenotter hat ein kurzhaariges Fell, er bleibt den ganzen Tag über zum Fischen im Wasser, aber er wird nicht nass. Und genau deshalb waren diese Felle so begehrt – man machte aus ihnen die besten Pelzmäntel der Welt“, erklärt der Biologe George.
Nach Auskunft der Biologin Silvana gibt es heute nicht mehr als zirka 5.000 dieser Tiere auf der ganzen Welt. Ihre Präsenz im Parque Nacional do Cantão bedeutet, dass es hier Fische im Überfluss gibt. Jeder Riesenotter frisst zirka 5 Kilogramm Fisch pro Tag. “Die Population der Riesenotter im Park ist am Wachsen, sie reproduzieren sich gut“, hebt die Biologin hervor.
Die Tierwelt gibt Signal, dass sich die nächste Periode, die Trockenzeit, nähert. Schmetterlinge konzentrieren sich und bereiten sich auf den Rückzug des Wassers vor. Ein Pärchen des Trinta-réis-grande (Phaetusa simplex) – ein häufiger Wasservogel im Cantão – scheint sich übers Wetter zu unterhalten. Ein Grosser Eisvogel (Megaceryle torquata) präsentiert sich. Und wir verabschieden uns von der Natur voller Wunder.