An oberster Stelle der brasilianischen Beliebtheits- Skala steht – wie könnte es anders sein – der Fussball:
Überall tritt, beziehungsweise spielt man ihn mit Begeisterung – in den Strassen und Gassen der ober- und mittelklassigen Wohnbezirke genauso wie zwischen den windschiefen Bretterbuden der Favelas – aber auch im gelben Sand der Stadtstrände oder auf den Rasenflächen der Stadtparks – auf den Sportplätzen der Militärkasernen und sogar auf dem Gefängnishof. Der Fussball ist, so scheint es, Sinnbild einer Einheit im Volk, die man – nicht zuletzt aus Gründen der enormen brasilianischen Rassen- und Völkervielfalt – auf anderen Gebieten leider viel zu selten findet. Und diejenigen, welche das Leder richtig zu treten verstehen, werden als Künstler verehrt und geliebt, verdienen unglaublich viel Geld, und es steht ihnen jede Art von Karriere offen – vom TV-Star bis zum Staatspräsidenten.
Wenn Sie schon einmal ein Fussballspiel im grössten Stadion der Welt, dem “Maracanã“ in Rio besucht haben, dann waren Sie bestimmt beeindruckt von der unvergleichlichen Euphorie, mit der sich das temperamentvolle Publikum Luft macht, Fussballwetten auf ihren Lieblingsverein abschliessen und zum Freudentanz ansetzt, wenn ihr Club ein Tor schiesst?
Da werden Vereinshymnen gemeinsam gesungen, wallende Fahnen und Wimpel in den Vereinsfarben zum dröhnenden Rhythmus riesiger Sambatrommeln geschwenkt, Feuerwerkskörper und Rauchbomben gezündet, die über den Köpfen der Menge explodieren, Feuerballons werden gegen den Himmel gesandt, Toilettenpapierrollen als Luftschlangen zweckentfremdet und sogar tote Hühnchen ins Publikum geworfen: letztere sind mit einem Bannfluch (Macumba) gegen die gegnerische Mannschaft belegt und kommen erst bei einem ungleichen Torverhältnis, sozusagen als letzte Rettung der eigenen Mannschaft, zum Einsatz. Die Atmosphäre ist kaum zu beschreiben, auf jeden Fall aber einzigartig und, mit ein bisschen Mut, unverzichtbarer Höhepunkt eines Besuchs in Rio de Janeiro!
Und wenn Sie sich schon einmal gefragt haben – besonders weil Brasilien fünffacher Weltmeister im Umgang mit dem Ball ist – woher eigentlich die vielen jungen Fussball-Talente stammen, dann möchten wir mit der folgenden Geschichte dieses Geheimnis lüften…
PELADA – STRASSEN-FUSSBALL
(Luis Fernando Veríssimo – aus dem Buch: „O Rei do Rock“, 1978)
„Pelada“ wird in Brasilien das Fussballspielen auf einem öffentlichen Rasenstück genannt – oder auf einem brachliegenden Terrain. Es gibt jedoch noch eine rudimentärere Version, das ist der „Futebol de Rua“ – der Strassenfussball. Im Vergleich zum „Futebol de Rua“ ist die „Pelada“ ein Luxus und das brachliegende Terrain das Maracanã der Besitzlosen. Wenn Du ein Mann bist, Brasilianer und in der Stadt gross geworden, dann weisst Du, wovon ich spreche. Der „Futebol de Rua“ ist so bescheiden, dass er die „Pelada“ mit Senhora anredet. Nun weiss ich nicht, ob jemand irgendwann einmal, aus Jux oder Nostalgie vielleicht, die Regeln des Strassenfussballs aufgeschrieben hat. Jedenfalls würden sie sich folgendermassen lesen:
Über den Ball
Als Ball kann irgendein Ding Verwendung finden, welches einigermassen rund ist – sogar ein Fussball! Hat man den nicht, geht alles, was rollt – wie zum Beispiel ein Stein, eine leere Büchse oder die Frühstücksdose Deines kleinen Bruders, der natürlich sofort losrennt, um sich zu Hause zu beschweren. Für den Fall, dass ein Stein Verwendung findet, eine Büchse oder ein anderes hartes Instrument, empfiehlt es sich in Schuhen zu spielen. Vorzugsweise in den neuen, die zur Schuluniform gehören. Wer barfuss spielt, sollte darauf achten, stets mit dem grossen Zehennagel zu schiessen, der sowieso gekürzt werden sollte. Es ist auch erlaubt, Früchte und Gemüse anstelle eines Balls zu benutzen – in diesem Fall empfiehlt sich besonders die Orange, der Apfel, eine Birne oder ein kleinerer Kürbis. Nicht empfohlen werden Tomaten, Melonen und, selbstverständlich, Eier. Die Ananas kann ebenfalls benutzt werden, aber dann möchte niemand Torwart spielen.
Das Tor
Die Torpfosten – man kann sie fast aus allem herstellen, was man gerade zur Hand hat: Ziegelsteine, Basaltköpfe eines Kopfsteinpflasters, verschwitzte Hemden ein bisschen eingedreht, aufgetürmte Schulbücher, sogar die beiden kleinen Geschwister selbst, trotz ihrer verständlichen Proteste. Wenn das Spiel wichtig ist, empfiehlt sich der Gebrauch von Mülltonnen – natürlich volle, um den Schüssen standzuhalten. Die Entfernung zwischen den „Pfosten“ hängt von einer Abmachung zwischen den beiden Spieler-Parteien ab – manchmal dauert diese Diskussion so lange, dass es Abendessenzeit wird, bis die Entscheidung endlich gefallen ist. Eine umgeschossene Mülltonne zählt als halbes Tor.
Das Spielfeld
Es kann sich bis zum Rand des Trottoirs hinziehen, kann Trottoir und Strasse einbeziehen – oder beide Trottoirs – und sogar den ganzen Block. Meistens spielt man auf der Strassenmitte.
Dauer des Spiels
Entweder bis die Mutter ruft oder bis es dunkel wird, je nachdem, was zuerst geschieht. Bei nächtlichen Spielen – bis jemand aus der Nachbarschaft droht, die Polizei zu rufen.
Formation der Teams
Die Zahl der Spieler in jeder Mannschaft ist unterschiedlich – zwischen einem und siebzig auf jeder Seite. Allerdings sind dazu ein paar Abmachungen üblich: ein schlechter Dribbler wird als Torwart eingeteilt. Einbeinige (das heisst: wer nur links oder rechts schiesst) kommen an die Sturmspitze – je nach schwachem Bein, links oder rechts. Wer eine Brille trägt ist bleibt im Mittelfeld, um Schocks zu vermeiden. Dicke kommen hinten in die Verteidigung.
Schiedsrichter
Gibt es keinen.
Unterbrechungen
- Beim Strassenfussball kann die Partie nur unterbrochen werden, wenn eine der folgenden Eventualitäten gegeben ist:
- Wenn der Ball unter eins der parkenden Autos gerollt ist und niemand ihn rausbekommt. In der Regel schickt man den kleinen Bruder.
- Wenn der Ball in ein Fenster fliegt. In diesem Fall sollten die Spieler nicht länger als zehn Minuten auf die freiwillige Rückgabe des Balls warten. Geschieht dies nicht, sollten die Spieler Freiwillige aussuchen, um an die Tür des Hauses oder Appartements zu klopfen und den Ball zurück zu fordern – zuerst höflich und dann bestimmt und unter Drohungen. Sollte das Haus oder Appartement allerdings von einem Mitglied des Militärs mit Hund bewohnt sein, empfiehlt sich die Anschaffung eines anderen Balls. Sollte die Scheibe des betroffenen Fensters beim Durchschuss geschlossen gewesen sein, empfiehlt sich eine Beratung des Teams allerdings einige Blocks weiter.
- Wenn ältere Personen oder Rollstuhlfahrer auf dem Trottoir entlangkommen.
- Wenn schwangere Frauen oder solche mir Kleinkindern im Arm vorbei wollen.
- Wenn die Sexbombe von 701 vorbeikommt, die nie einen Büstenhalter trägt.
- Wenn allerdings das Spiel unentschieden stehen sollte – zum Beispiel 20 zu 20 und fast am Ende ist – dann werden die letzten drei Regeln ignoriert. Und wenn dann jemand dem angreifenden Team im Weg stehen sollte – Pech für ihn (oder für sie)! Niemand hat ihn (oder sie) gebeten, das Spielfeld zu betreten.
Ersatzspieler
Sie sind nur zugelassen, wenn einer der Team-Spieler am Ohr nach Hause geschleift wird, um seine Hausaufgaben zu machen.
Halbzeit zum Ausruhen
Soll wohl ein Witz sein?
Über die Spieltaktik
Man spielt den „Futebol de Rua“ in etwa so, wie den richtigen Fussball, aber mit einigen wichtigen Variationen. Der Torwart, zum Beispiel, ist nur unter dem Schutz seiner Mutter unantastbar – nämlich wenn er weinend und hilfesuchend nach Hause rennt.
Strafstösse
Das einzige vorgesehene Foul beim Strassenfussball ist, wenn man einen Gegenspieler in einen Gully oder ein Abflussrohr stösst. Das gilt als unsportlich und wird mit einem indirekten Strafstoss geahndet.
VERSTANDEN?
“Nun, haben Sie verstanden? Der Hang zum Fussball wird uns Brasilianern sozusagen mit der Muttermilch eingeflösst – ob arm oder reich. Schon wenn wir krabbeln können, tun wir dies stets mit dem Ziel, dem grösseren Bruder seinen Ball wegzunehmen. Und kaum stehen wir auf eigenen Beinchen, veranstalten wir unsere ersten “Peladas“ mit anderen Knirpsen auf dem Hinterhof. Und wenn wir heranwachsen, haben die meisten unserer Träume mit dem Fussball zutun – wie die Träume von “Ronaldo“, der unter ärmsten Verhältnissen aufwuchs und seinen Traum verwirklichte.
Heute sagen zu dürfen, dass wir Brasilianer die Weltbesten in diesem Sport sind, dazu ist vor allem die Hingabe an ein Ideal nötig, mit der wir schon auf diese Welt kommen. Bitte verzeihen Sie mir diese scheinbare Arroganz, aber während Kinder in Europa sich mit allem nur erdenklichen technischen und elektronischen Spielzeug vergnügen – was uns, zugegeben, in den meisten Fällen unbekannt, weil mit dem geringen Einkommen unserer Eltern unerreichbar – suchen wir uns ein geeignetes Objekt für einen “Futebol de Rua“ und vergnügen uns damit. Und wenn dann endlich ein echter Fussball Einzug in die Familie hält, sind wir überhaupt nicht mehr zu halten – und eine wichtige Auseinandersetzung mit einem Strassen-Team aus der Nachbarschaft kann uns sogar, hie und da, zum Schwänzen der Schule verleiten!
Und natürlich verfolgen wir schon von Kindesbeinen an die Entwicklung auf nationalem und internationalem Rasen. Liegen bei jedem Spiel unseres Vereins kommentierend und Popcorn kauend in den Armen unserer Väter vor der Flimmerkiste, schreien mit ihnen wie am Spies bei einem Tor – während unsere Schwestern und Mütter für Nachschub auf den Tellern und in den Gläsern sorgen. Jedoch auch unter dem weiblichen Geschlecht gibt es Fans, die zwar in der Regel nicht beim Balltreten anzutreffen sind, wohl aber zwischen dem anfeuernden Publikum. Und wenn sie auch lieber die muskulösen Oberschenkel der Spieler denn deren gekonntes Dribbling bewundern, so bleibt doch der hohe Diskant ihrer spitzen Schreie eine unverzichtbare Abrundung des allgemeinen Fussballenthusiasmus in jedem Stadion.
Inzwischen hat die brasilianische Fussballbegeisterung immer mehr auch weibliche Fussball-Teams hervorgebracht – und die Frauen-Nationalelf sind besser gerankt als die Männer!