…und ihre typischen Charaktereigenschaften, ihre überraschenden Verhaltensweisen, ihre ungewöhnlichen Sitten und Gebräuche – nach fast vierzig Jahren meines Lebens unter diesen, im wahren Sinn des Wortes bemerkenswerten Lebenskünstlern, fühle ich mich berechtigt und verpflichtet, meine Erfahrungen mit ihnen niederzuschreiben, die jedoch, das sollte der Leser meiner Aufzeichnungen stets bedenken, die Erfahrungen eines Ausländers sind – genauer gesagt, eines Deutschen mit einem typisch deutschen Kultur-, Erziehungs- und Bildungsfundament, der sich Brasilien als seine Wahlheimat ausgesucht hat, nachdem er sich – wie so viele Touristen schon vor und auch nach ihm –anlässlich eines Erstbesuchs, im Alter von 19 Jahren, in das Land und seine so unbekümmert auftretenden Menschen vernarrt hatte.
Im Grunde kann man dieses über 193-Millionen-Volk, welches im fünftgrössten Land unseres Planeten(nach Russland, Kanada, USA und der VR China) lebt, und aus eingeborenen Indianern, portugiesischen Eroberern, eingeschleppten afrikanischen Sklaven und Emigranten aus allen Ecken der Welt hervorgegangen ist, nicht aus einer einzigen Perspektive betrachten – ich meine, es ist praktisch unmöglich, von “den Brasilianern“ als einem einzigen Volk zu sprechen, sie, bildlich gesprochen, “in einen Topf zu werfen“ – oder “über einen Kamm zu scheren“ – zumindest müsste man sie nach den einzelnen geografischen Regionen unterscheiden, in denen sie jeweils leben – also nach “Brasilianern aus dem Norden, dem Nordosten, dem Mittelwesten, dem Südosten und dem Süden“. Es liegen riesige Entfernungen zwischen den jeweiligen Zentren dieser unterschiedlichen Regionen, die von jenen 25%, welche es sich leisten können, in der Regel per Flugzeug überbrückt werden (Manaus im Norden, ist von Porto Alegre im Süden, zum Beispiel, rund 3.200 km Luftlinie entfernt) – dagegen bringen zwei Drittel der Brasilianer höchstens einmal im Jahr die Mittel auf, sich per Bus tagelang auf prekären Landstrassen durchschütteln zu lassen, um ihre Angehörigen im Hinterland wiederzusehen. (Für dieselbe Entfernung von Porto Alegre nach Manaus brauchen sie zirka 60 Stunden auf dem Landweg – wenn unterwegs kein Reifen platzt oder sonst ein Problem auftritt).
Geografische und klimatische Bedingungen haben die Bewohner der jeweiligen Regionen geprägt und geformt – Ureinwohner, Nachkommen afrikanischer Sklaven und Emigranten haben sich in fröhlichem Entgegenkommen gemischt – und heute kann man “die Brasilianer“ kaum mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Ein “Brasilianer“ hat, zumindest von seinem Äusseren her, kein typisches Erscheinungsbild, und die man in Europa so von Bildern kennt – wie zum Beispiel “Pelé“, das ewige Fussballidol, die dunkelbraunen “Mulatas“ oder irgendwelche schwitzenden schwarzen Arbeiter – sie sind, da sie als Schwarze nur etwa 10% der Bevölkerung ausmachen, kaum als brasilientypisch zu betrachten. 30% der Brasilianer gelten als Mestizen (Mischlinge) und 50% sind nahezu rein weisse Nachkommen europäischer Emigranten. Der Rest sind Indianer und Asiaten – darunter mehr als eine Million Japaner.
Indianer, Schwarze und Emigranten haben zusammen eine Kulturvielfalt in ihrer jeweiligen Region hervorgebracht, die, wenn man einmal Gesamtbrasilien betrachtet, mit keinem anderen Land dieser Erde verglichen werden kann. Allerdings hat sich, den zahlreichen Kontrasten zwischen den einzelnen Regionen zum Trotz, die portugiesische Sprache im ganzen Land durchgesetzt – und zwar von Nord bis Süd fast dialektfrei. Die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Fernsehnetz halten die Nation der Brasilianer zusammen – besser als das die Regierung in Brasília könnte, die für die einen “viel zu wenig präsent“ und für die andern “Gott sei Dank weit weg“ ist.
Mit einer Ausdehnung von 8,5 Millionen Quadratkilometern etwa vergleichbar mit der Fläche Europas, ist dieses Riesenland, neben seiner geografischen Herausforderung, natürlich auch eine wirtschaftliche: Eine Regierung, welche innerhalb solcher Massstäbe eine ordentlich funktionierende Infrastruktur schaffen und kontrollieren will, ist sowieso ständig überfordert. Besonders wenn sie sich, wie durch die Medien hinreichend bekannt, aus einer geradezu obszönen Zahl von korrupten Politikern zusammensetzt, deren Hauptsorge der persönlichen Bereicherung auf Staatskosten gilt – ihre “Diäten“ sind zwar bereits die höchsten der Welt (sie erhalten aus dem Regierungsapparat heute zirka 36.000,00 Euro monatlich), aber damit nicht genug, unterschlagen sie Gelder aus der öffentlichen Hand, vergeben Baukonzessionen gegen Bestechungsgelder in Millionenhöhe, eröffnen illegale Kassinos, bilden sogar verabredete Blockaden gegen Regierungsbeschlüsse, welche ihre Bereicherungspläne auf Kosten des Volkes stören könnten. Darüber steht ein Präsident, der immer dann, wenn er von den Medien zu einer Aussage gezwungen wird, sich mit einem “Davon weiss ich nichts“ aus der Affäre zieht. Es sagt bereits einiges über die Geduld – oder sollte ich besser sagen : die Duldsamkeit – der Brasilianer aus, dass nach letzten Umfragen immer noch 57% “ihrem Präsidenten“, der sich beispielhaft aus ihren eigenen Reihen nach oben laviert hat, ihr volles Vertrauen schenken. Nach den Regierungsskandalen, die während seiner Amtszeit von jetzt fast 5 Jahren in Brasília gelaufen sind – sogar oberste Bundesrichter waren darin verwickelt – dürften die Brasilianer das einzige Volk auf dieser Welt sein, das einen Oscar für seine Toleranz und Duldsamkeit verdient – oder sollte ich besser sagen: für seine Ignoranz?
Aber lassen Sie mich nach dieser kurzen Einleitung mal zurückkommen auf meine persönlichen Beobachtungen unter diesen oscar-verdächtigen Staatsbürgern. Ich lebe und arbeite, nachdem ich als ehemaliger Pressefotograf im ganzen Land herumgekommen bin, seit 18 Jahren in Rio de Janeiro. Meine persönlichen Beobachtungen und Schilderungen werden also in erster Linie die Brasilianer aus dem südöstlichen Brasilien betreffen (mit den Hauptstädten São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte), die aber wiederum beispielgebend für den grössten Teil Brasiliens sind – hier befinden sich fast alle meinungsbildenden TV-Sender und restlichen Medien des Landes – und damit stammen auch meine eigenen Beobachtungen aus einer brasilientypischen Szene, in der sich zeitweise auch viele Menschen aus anderen Regionen Brasiliens aufhalten und das Geschehen mitbestimmen.
Unter dieser Rubrik können Sie in unregelmässigen Abständen eine subjektive Skizze dessen lesen, was ich unter Brasilianern erlebt, und welche persönlichen Erfahrungen ich mit ihnen gemacht habe. Alle Einzelskizzen zusammen werden dann hoffentlich ein Gesamtbild ergeben, welches einerseits gewisse Vorurteile abbauen soll, andererseits auch mit gewissen exaltierten Mythen aus Tourismus-Katalogen aufräumen will – und durchaus auch zahlreiche Missstände und für uns Europäer Zorn und Abscheu erregende Verhaltensweisen offenlegen wird.