Wie sich der Drogenhandel in der “carioacanischen“ Landschaft eingenistet hat und zu einem hoch rentablen Geschäft der Favelas an den Abhängen der Hügel geworden ist. Der Drogenhandel hat in Rio de Janeiro ein superlatives Ausmass erreicht. In mindestens 300 der 752 Favelas cariocas hat er sich eingenistet und sich derart ausgebreitet, dass er nicht nur den Ruf der Stadt untergraben hat – “bewohnt von Drogenhändlern, die sich mit Militärwaffen in der Hand durch die Strassen bewegen“ – sondern auch das Leben der anständigen Favela-Bewohner ständig in Gefahr bringt.
Die Routine der Stadt wird häufig von Schiessereien zwischen gegnerischen Banden unterbrochen – oder durch einen Schlagabtausch zwischen Banditen und einer Polizeitruppe. In Konsequenz werden Tunnel geschlossen, die strategisch bedeutende Stadtteile miteinander verbinden, und Fernstrassen, die nach Rio hineinführen, werden gesperrt.
Erst vor kurzem hat die Drogenmafia wieder mal mit neuen Terroraktionen deutlich gemacht hat, wer hier das Sagen hat – indem sie Aktionen ihrer Vasallen anordneten, in denen 12 Personen starben und weitere 30 verletzt wurden. Es sind dies die tragischen und offensichtlichen Resultate einer Kriminalität, denen die sukzessiven Regierenden der letzten drei Jahrzehnte vergeblich versuchen, beizukommen. Viele von ihnen allerdings, haben es auch glatt versäumt, etwas gegen das Banditentum zu unternehmen. Im Gegenteil: sie trafen schlüpfrige Abmachungen mit Drogenbossen und versuchten, das Krebsgeschwür zu übersehen, das sich in der Stadt ausbreitete.
Der Handel mit Kokain ist ein Verbrechen mit höchster Gewinnmarge. Zwischen der Produktion der Droge in den Andenländern und ihrem Verkauf in den “Bocas-de-fumo“ der Favelas von Rio steigt ihr Preis um 650%. Der Gewinn ist nur deshalb nicht noch höher für die Vertreiber, weil diese, um ihren Handel aufrecht erhalten zu können, einen nicht unbedeutenden Prozentsatz ihrer Marge an korrupte Polizisten abführen. Und unter letzteren gibt es welche, die 80% der Marge in einigen Favelas zugesteckt bekommen! Zusätzlich bei den Ausgaben wiegen gewisse Karriere-Funktionäre der Banden, die ein beneidenswert hohes Gehalt beziehen. Zum Beispiel beträgt das eines “Gerente Geral“ (etwa: Abteilungsleiters) 15.000 Reais (etwa 6.500,00 Euros) pro Monat! In den letzten Jahren haben die Drogenhändler damit begonnen, auch verschiedene andere Dienstleistungen im Favela-Bereich zu unterwandern und sich so auch des formellen Kommerzes zu bemächtigen. Der urbane Mythos des “Drogenbarons“ – einem Bürger der oberen Mittelklasse, der die Verbrecher von seinem Penthouse mit Meerblick bequem dirigiert, ist allerdings nie von der Polizei bestätigt worden. Dagegen ist es mehr als offensichtlich, dass sich die “Quadrilhas“ (Banden) gegenwärtig wie Industrieunternehmen verhalten. Bis in die 80er Jahre verkauften die Favelas ausschliesslich Marihuana und Kokain. Heute bieten sie auch Haschisch und Crack an – Produkte, welche die Carioca-Banden durch ihre inzwischen gefestigten Beziehungen zum PCC in São Paulo erhalten. Die Initiativen des Marketings drücken sich nicht nur im breiter gewordenen Sortiment ihrer Produkte, sondern auch in der Art und Weise aus, wie sie kommerzialisiert werden. Um mehr Abnehmer und Verbraucher anzulocken, veranstalten die Drogenhändler Shows und Bälle. Der populärste ist der “Baile Funk“ – aber viele andere Events schiessen aus dem Boden. Kürzlich hat ein geheimer “Vale-Tudo“ (Alles gilt) Wettbewerb Hunderte von Zuschauern in die Favela “Cidade de Deus“ (Stadt Gottes) gelockt. Und dann gibt es die bekannten Trainings-Veranstaltungen der “Escolas de Samba“ als Vorbereitung für die Karnevalsparade. Die von der “Mangueira“, zum Beispiel, der traditionellsten Sambaschule er Stadt – sie empfängt bis zu 15.000 Personen pro Abend und hat sich zu einer exzellenten Möglichkeit für die Drogenhändler entwickelt, ihre Verkaufsfrequenz anzukurbeln.
Die Mangueira rangiert unter den zehn Favelas mit den stärksten Kontingenten von Drogenbanden in Rio, die enorme Mengen von Drogen absetzen, die grösste und best ausgerüstete Kampfgruppe darstellen und für alle dem Drogenhandel angeschlossenen Banden von unumgänglicher strategischer Bedeutung sind, wie zum Beispiel das “Comando Vermelho“, die “Amigos dos Amigos“ und das “Terceiro Comando“. Jede Favela dieser Gruppe funktioniert wie eine Art von Verteilerzentrum für Drogen und Waffen für Personen, die derselben Bande angehören – ausserdem bieten sie befreundeten Banden operationelle Unterstützung bei ihren unendlichen territorialen Auseinandersetzungen.
Die Rocinha, die Schaufenster-Favela von Rio, ist ein weiterer strategischer Ort des Drogenhandels. 150 Schritte von der Strasse “Lagoa – Barra“ gelegen, welche Rios Südzone mit der Barra da Tijuca verbindet, ist sie Rios bewegtester “Boca-de-Fumo“ (Drogenhandelsplatz). Zur Basis gehört ein Ausguck – verantwortlich für die Frühwarnung der Drogenhändler im Falle einer feindlichen Annäherung – und nicht mehr als fünf weitere “Soldaten“, die, mit Gewehren bewaffnet, sich an strategischen Punkten versteckt halten.
Der bedeutendste Lieferant für die “Quadrilhas“ in Rio de Janeiro ist São Paulo. Und die Fernstrasse “Rodovia Presidente Dutra“ ist das Eingangstor für 90% der 17 Tonnen Kokain, die in Rio pro Jahr umgesetzt werden. Der grösste Teil wird innerhalb der Stadtgrenzen verkonsumiert. Rio de Janeiro ist somit die Endstation eines Zyklus, dessen Anfänge in den Andenländern liegen, und der auf seinem Weg eine blutige Spur von Mord, Totschlag und Korruption hinterlässt.
Wie das Problem gelöst werden kann:
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DER WEG DES KOKAINS
Von der Pflanzung bis zum Verkauf in den Favelas Cariocas erfährt die Droge eine Wertsteigerung von 650%.
1.) Die Produktion
Angepflanzt in Bolivien, Peru und Kolumbien, durchläuft das Blatt der Koka-Pflanze einen chemischen Prozess, bis sie sich in jenen Verderben bringenden weissen Puder verwandelt hat – das Kokain-Chloridrat. In den Andenländern wird er dann für um die 2.000 US-Dollar pro Kilo verkauft.
2.) Der Vertrieb
Von den Zentren der Verfeinerung aus wird die Droge bis zur paraguayischen Grenze transportiert. Dort wird der Transport von Drogenhändlern aus Rio de Janeiro aufgekauft – für 3.000 USD pro Kilogramm.
3.) Verteilung auf die Favelas
In Rio wird das Kokain bei einigen Favelas untergebracht, welche die Verteilung der Droge an andere derselben Bande übernehmen. Ab diesem Abschnitt kostet das Kilogramm Kokain 5.000 US-Dollar – allerdings abhängig vom Reinheitsgrad der Ware.
4.) Favela-Verschnitt
In den Favelas wird die zu einem hohen Grad „reine“ Droge mit anderen Substanzen, wie Lidocain, Mehl, Marmorpuder oder Talkumpuder gemischt – aus einem Kilogramm reinem Kokain mixt man so mindestens das Doppelte der ursprünglichen Menge.
5.) Der Verkauf
Der Verkauf geschieht im Einzelhandel – so wie auf einem öffentlichen Markt. Die Drogenhändler veranstalten Funk-Bälle und profitieren ausserdem von den öffentlichen Veranstaltungen der Sambaschulen, um ihren Absatz zu steigern. Das Kilogramm Kokain wird nun – nach dem Mischen mit anderen Stoffen – für bis zu 15.000 US-Dollar verkauft.
DROGENHANDEL MIT MEERESBLICK
Umworben und begehrt von den Drogenhändlern aller Fraktionen, wegen ihrer hohen Rentabilität, ist die Favela Rocinha ein Pulverfass inmitten von Rios Südzone.
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Quelle: VEJA, Ausgabe N°. 1 10. Januar 2007, Seite 50 von Ronaldo França
Bearbeitung/Übersetzung Klaus D. Günther für BrasilienPortal
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