Wir haben uns die Auswirkungen der überraschenden Trockenheit in Amazonien angesehen, die das Becken des Rio Solimões gegen Ende diesen Jahres (2010 ) verwandelt hat – dies ist eine Einladung zum Nachdenken.
“Besatzung fertig machen zur Landung“! Die Aufforderung des Piloten durch die Bordlautsprecher hat zu Folge, dass fast alle Passagiere des Fluges aus São Paulo an die kleinen Fenster der Maschine drängen, als sie den Amazonasstrom überfliegt – der Pilot fliegt eine ausgiebige Kurve, kreuzt den Strom erneut und fliegt dann parallel über dem einmündenden Rio Negro stromauf, in Richtung der Landepiste des Flughafens von Manaus.
Was wir von oben sehen können scheint unwirklich: Amazonien trocken! Wir trauen unseren Augen nicht. Ufer breiter als die Flüsse. Strände mit weissem Sand lassen den Wald weit hinter sich. Die Landfläche erstreckt sich viel imponenter als die wenigen restlichen Lagunen – und das im Becken des grössten Wasservolumens der Erde!!
Die ersten Regenfälle des November lassen die Menschen eleichtert aufatmen. Der schlimmste Teil der Trockenheit ist jetzt vorbei. Aber bei unserer Ankunft in Manaus, gegen Ende Oktober, befand sich die Trockenheit auf ihrem Höhepunkt – oder besser: auf ihrem Tiefstpunkt! Beim Zusammentreffen des Rio Negro mit dem Solimões – dem berühmten “Meeting of the Waters“ – war der Wasserspiegel um 15 Meter gesunken – gemessen an der Mole in Manaus. An den Verkaufsständen des Marktes in Manaus, die normalerweise pro Jahr 14.000 Tonnen Fisch feilbieten, hatte die Trockenheit schwer zugeschlagen – sowohl Händler wie Kunden waren besorgt – die Trockenheit gab Anlass zur Spekulation. Die von den lokalen Bewohnern am meisten konsumierten Fischarten – Jaraqui, Sardinen, Pacu und Corimatã – wurden doppelt so teuer. “Im Interior ist alles vollkommen trocken – inzwischen wird der Fisch immer seltener“, verteidigt sich der Händler Edson Gouveia.
Wir entschliessen uns, in dieses Interior zu reisen, mit der unangenehmen Mission, den Tod der Fische zu bezeugen. Von Manaus aus per Fähre über den Rio Negro – per Auto bis Manacapuru, einem Flusshafen etwa 80km in Richtung Nordwest, am Rio Solimões – von dort weiter per Motorboot einen Nebenfluss aufwärts. Aber es dauert nicht lang – etwa nach drei Kilometern Fahrt, da erstirbt der Aussenborder und unser Pilot meint stirnrunzelnd: “Von hier aus geht’s nicht weiter – die Schraube steckt schon im Lehm“!
Die Zuflüsse zum Hauptstrom sind trocken, und die grösseren Schiffe stecken irgendwo fest im Lehm. Nur noch die flachen Kanus können ein Stück weit diese Nebenflüsse hochfahren. Das erklärt den ungewöhnlich dichten Verkehr dieser flachen Boote – zu Hunderten sind sie unterwegs, beladen mit Fracht und Menschen – mit einer Geschwindigkeit von 5km/Std, getrieben von einem “Motor de rabeta“ (ein Aussenborder, dessen Schraube an einer beweglichen Achse montiert ist, die der Pilot bis knapp unter die Wasseroberfläche hochschwenken kann).
Unser zweiter Versuch, dorthin zu gelangen, wo Schiffe nicht mehr hinkommen, verlangt nach einem Spezialisten: Vivaldo – man nennt ihn Val – hat 56 Jahre lang Erfahrung mit dem Fluss und besitzt ein Boot mit einem schwachen Motor. Mit ihm passieren wir die Mündung des Rio Manacapuru, stranguliert vom Sand, und beginnen mit der Auffahrt.
In Amazonien erweist sich die Trockenheit ganz anders als wir sie uns in unserer Phantasie vorgestellt haben – weil wir dabei an Szenarien des helbtrockenen Sertão denken. Hier gibt es keine verdorrten Büsche. Der Regenwald erstreckt sich bis an die originalen Ufer und ist immer noch grün. Und vom Wald bis zum Kanal des zurück gegangenen Wassers, alles grün, erinnert an ein riesiges Reisfeld. Schön anzusehen, aber tragisch: Das Unkraut ist auf dem gewachsen, was einmal eine Lagune war, es bedeckt und verbirgt ein schreckliches ambientales Ungleichgewicht. Val zeigt uns die Grenzen des ehemals riesigen Sees des Rio Manacapuru, auf dem wir uns befinden.
Normalerweise sind es von einem Ufer zum andern etwa 12 Kilometer – jetzt ist nur noch der Kanal geblieben, mit zirka 100 Metern Breite. Wir verlassen das Boot, und die Trockenheit nimmt dieselben Formen an, wie die aus unserer Phantasie: Aufgeplatzte Erde, über der ein schlechter Geruch hängt, Flussbett von der Sonne verbrannt. Tausende, vielleicht Millionen, tote Fische liegen als Skelette herum – Piranhas, Cascudos, grössere und kleinere Exemplare.
Ich weiss nicht genau, ob aus Schock über solche Realität, aber mir kommt es so vor, als ob diese Fische alle mit weit geöffnetem, zum Himmel gerichteten, Maul starben – sie flehten nach Wasser, oder nach Sauerstoff, bevor sie erstickten. Die äquatoriale Hitze ist drückend – unser Bootspilot schweigt sich aus und sein Blick ist beschämt in weite Ferne gerichtet.
“Hast Du je eine solche Trockenheit erlebt, Val“? frage ich ihn.
“Nein – niemals“!
Wir waten durch den Schlamm zurück zum Boot – die Köpfe gesenkt, schweissüberströmt und schmerzerfüllt. Fahren dann ein Stück und halten wieder an, um mit Josué zu sprechen, einem Flussbewohner, der seit der Morgendämmerung versucht, einen Fisch zu fangen. “Es ist schwierig, den Schwarm zu entdecken. Mit der Trockenheit der Lagune, sammeln sich die Fische in Schwärmen im Kanal. Wer einen Schwarm entdeckt, der fängt viel. Aber, wenn er ihn nicht findet, fängt er gar nichts“.
“Was für Fische sind hier gestorben, Josué“?
“Von allen Sorten – Filhote, Tucunaré und sogar Peixe-boi – Seekuh. Und das ist sehr traurig. Die Fische, die tot sind, gehen nicht mehr an die Angel, und die Schwärme vom unteren Fluss kommen nicht mehr herauf, weil der Kanal sehr flach ist und die Qualität vom Wasser schlecht – für sie. Der Fisch spürt den Geruch vom schlechten Wasser und kommt nicht mehr hier herauf zu uns. Das haben wir noch nie gehabt“!
Innerhalb von einer Stunde zur andern scheint das Wasserlabyrinth uns festhalten zu wollen. Als wir den Kanal ausserhalb der Lagune passieren wollen, müssen wir erneut durch eine Engstelle zwischen Sandbänken hindurch, an der Mündung des Rio Piranha. Wir stossen das Boot mit langen Stangen gemeinsam vom Boden ab, bis wir endgültig stecken bleiben, an der Seite von zwei grossen Schiffen, denen die trockenheit zum Verhängnis geworden ist.
Val steigt aus und schiebt das relativ leichte Boot über die Sandbank hinweg – ich setze mich ganz nach vorn, um das Gewicht auszugleichen. Endlich klettert er wieder ins Boot, schlammgetränkt bis an die Hüften – aber er grinst mich an, das Boot ist wieder frei.
Auf dem Rio Piranha treffen wir auf Ufer voller Kaimane – Mohrenkaiman (Melanosuchus niger), Spuren von Corrupiões – Orangetrupial (Icterus jamacaii oder Icterus chrysocephalus) im Lehm und Bäume voller Biguás – Olivenscharbe (Phalacrocorax olivaceus). Plötzlich kräuselt sich die Wasseroberfläche, dann kocht sie wie ein riesiger Suppentopf – wir haben einen Schwarm Branquinhas – ein Raubsalmler (Charex gibbosus) gekreuzt, und die springen jetzt mehr als einen Meter hoch aus dem Wasser, einige springen auch in unser Boot. Und sie werden noch mehr – ihr Anprall an den Bootskörper ähnelt einem Trommelwirbel – sie springen mir sogar ins Gesicht – es wimmelt von Fischen nach allen Seiten. Val mindert die Geschwindigkeit – und plötzlich ist es zuende. In Sekunden beruhigt sich die Wasserfläche wieder. Josué hatte recht.
Die Beobachtung zahlreicher Tiere in kurzer Zeit – ein Privileg, welches normalerweise die trockene Jahreszeit dem Besucher offeriert – kehrt sich in meinem Fall um in Perplexität. Wir erreichen die ersten Hütten der Kommune Boa União, eine der 40 durch die Trockenheit von der Aussenwelt abgeschnittenen Siedlungen der Flussbewohner in der Region von Manacapuru. José Lira empfängt uns auf seiner schwimmenden Veranda. Seine Frau Maria erscheint am Fenster, und die acht Kinder der Beiden zeigen sich nacheinander – zwischen 21 und 5 Jahren – alle daheim. Ohne Versorgungsschiff und ohne Benzin für’s Kanu geht niemand weg, und niemand kommt – schon seit fast zwei Monaten.
Maria beugt sich über eine Tonne und holt eine Handvoll Maniokmehl heraus – in der anderen Hand hält sie ein Stück gesalzenen Fisch. Die Vorräte sind fast verbraucht, der Herd ohne Gas, der Appetit ist ebenfalls passé. “Wir können den gesalzenen Fisch mit Maniokmehl nicht mehr sehen“, sagt sie.
1.200 Familien wie die von José und Maria leben in der Isolation in dieser Region. Eines der grössten Probleme aller ist das Trinkwasser: eigentlich gibt es keins. Dasselbe Wasser, was sie immer zum Trinken benutzt haben – jetzt macht es krank: es konzentriert in sich organischen Schmutz, multipliziert mit der Verwesung der toten Tiere. Man hat erwogen, Chlor per Helikopter unter die betroffenen Flussanwohner zu verteilen, um das geschöpfte Flusswasser zu behandeln – hat es dann aber doch nicht in die Tat umgesetzt, wegen der hohen Kosten.
Diese Isolation und plötzliche Bedürftigkeit beweisen, wie unvorbereitet und hilflos die Menschen plötzlichen klimatischen Veränderungen gegenüberstehen – seien sie nun permanent oder nicht, verursacht durch menschliche Nachlässigkeit oder nicht. Der Bewohner des halbtrockenen Nordostens weiss, dass er ein Regenwasser-Reservoir anlegen muss für die Trockenperiode. Also baut er Zisternen. Ausserdem kann er auf Dämme und künstlich angelegte Lagunen in seiner Umgebung zählen. Und für den Fall, dass die Trockenheit länger dauert, hat er gelernt, wie wichtig es ist, die Wasserreste vom Grund des Brunnens gut abzukochen bevor man sie trinkt.
In Amazonien dagegen, war die Idee, ein Wasser-Reservoir anzulegen etwa so, als ob man einen Vorrat an Eis in der Antarktis anlegen wollte. Inzwischen scheint dies niemandem mehr so absurd. An einem Ort unseres Planeten, an dem die Flüsse die Strassen bilden und die Quellen allen Überflusses sind, hat die Trockenheit zum ersten Mal Türen geschlossen und uns die Zerbrechlichkeit des Lebens demonstriert.
Eine Lektion, die der Mensch lernen sollte
Niemand weiss zu sagen, wieviele Fische durch diese Trockenheit in Amazonien gestorben sind. Die lokalen Fischer sprechen von Hunderten von Tonnen – jeder meint damit seinen Nebenfluss des Amazonas. Es gibt keine Statistik darüber. Es sind viele Flüsse betroffen, und die Vernichtung ist besonders umfassend in den isolierten Gebieten, noch ohne Kommunikation. Tatsache ist, dass viele Fische gestorben sind – wir haben es gesehen.
Wissenschaftliche Erklärungen des Phänomens: Die Fische starben weil das Wasser immer weniger wurde, dadurch sich über die Massen erhitzte – besonders in den Seen und Lagunen. Man schätzt, dass die Durchschnittstemperatur auf zirka 3 Grad über der normalen Temperatur von 25 Grad gestiegen ist. In einem Ambiente mit reduziertem und gleichzeitig erwärmtem Volumen sinkt die Sauerstoffkonzentration – der Metabolismus der Fische kollabiert.
Nachdem die Trockenheit vorbei ist, bleiben zwei bedeutende Fragen. Die erste, die einer sofortigen Antwort bedarf, ist eine Untersuchung des Schocks für den Fischbestand. Der Biologe Geraldo Mendes, vom Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia nimmt an, dass die Erholung nicht länger als ein Jahr brauchen wird. Wenn erst einmal der normale Lauf der Flüsse und das Volumen der Lagunen und Seen wieder hergestellt ist, wird die Verwesung der toten Fische keine schwerwiegenden Konsequenzen mehr für die Qualität des Wassers haben. “Eigentlich dienen jene toten Fische anderen lebendige zur Nahrung“, sagt er.
Der Produktionssekretär des Bundesstaates Amazonas, José Maier, ist anderer Meinung. Er glaubt, dass die ungeheure organische Materien-Masse unter Wasser eine neue Erhöhung der Wassertemperatur provozieren könnte. “Das wird kochen . . . Das wird eine Hitze ausstrahlen, die kein Spass ist. Dieser Abfall wird ausserdem das Amoniak-Level anheben und so die Wasserqualität verschlechtern“, sagt er.
Diese weniger optimistische Vision wird von dem Fischerei-Ingenieur und Ökologie-Professor Geraldo Bernardino geteilt, er ist heute Fischerei-Sekretär des Bundesstaates Amazonas. Seiner Meinung nach ist der Effekt dieser letzten Trockenheit sehr viel grösser als jedweder anderer zuvor, weil der Fischfang heutzutage mehr Fische als zuvor aus den Flüssen entnimmt. Der Staat hat 2.500 grosse Fischerboote und noch weitere 50.000 bis 100.000 motorisierte Kanus.
Die Produktion des Amazonas liegt heute bei 160.000 Tonnen Fisch – 90.000 für den Eigenverbrauch und 70.000 für den Verkauf. Bei einigen Arten spüren wir bereits einen Rückgang durch Überfischung – wie zum Beispiel beim Tambaqui und der Piramutaba. “Einerseits fangen die kommerziellen Fischer mehr Fische, andererseits holen sie dafür aber eine geringere Zahl an Arten aus dem Wasser. Amazonien hat rund 2.500 Arten, aber nur 25 bis 30 davon finden sich in der Fangproduktion“.
Bernardino findet es entscheidend, die Überwachungsmethoden ernstzunehmen – sowohl seitens der Fischer als auch seitens der Kontrollbeamten, und dazu gehört: Überwachung des Fischereiverbots während der Laichzeit – vom 15. November bis 15. März, Ende des Fischfangs an den Mündunges der Seen, die als Kinderstube der Fische dienen, und die Respektierung der vorgeschriebenen Mindestgrösse einer jeden Art. “Bei diesem letzten Punkt kann uns der Verbraucher helfen, indem er kleinere Exemplare ablehnt zu kaufen“.
Die zweite bedeutende Frage dreht sich um das Studium der Frequenz jener scheinbar sporadisch auftretenden Trockenperioden. Wenn der Zyklus drastischer Trockenperioden bisher bei ungefähr zehn bis zwölf Jahren lag – die letzte grosse Trockenheit am Rio Solimões war 1990 – soll das ein Signal sein, dass die Frequenz vielleicht zunimmt? Und wenn die Zeit zwischen drastischen Trockenheiten de facto zunehmen sollte – welche Rolle spielt dabei die Abholzung des Regenwaldes? Und welche Massnahmen können greifen?
Und was tut die Regierung in dieser Sache?
Die wissenschaftliche Beweisführung und entsprechende Vorschläge zur Politik in dieser Sache werden ohne Zweifel Jahre der Beobachtung brauchen. Aber am Rio Piranha steht für Renato (51) fest: “Wenn wir eine solche Trockenheit einmal pro Jahr bekommen, ist’s aus mit dem Fischen“!