EINREISE NACH BRASILIEN IM WANDEL DER ZEIT
Dezember 1993, um 07:00 morgens, am Zoll in São Paulo. Ich stehe zum ersten Mal in der scheinbar endlosen Schlange der “Estrangeiros“, voll erregter Spannung, was mich in Brasilien wohl erwartet. Ein unfreundliches und harsches “Próximo“ (Nächster) reisst mich aus meinen Gedanken, und ich begebe mich zu dem winkenden Beamten. Mein höfliches “Bom-dia“ wird nicht erwidert, stattdessen drückt er mir wortlos einen Stempel in den Pass – und anschliessend brüllt er sein nächstes “Próximo“ der Warteschlange entgegen!
Dezember 2008, um 07:00 morgens, am Zoll in São Paulo. Ich stehe im 15. Jahr in der Warteschlange um den benötigten Stempel zu bekommen. Arbeit, neue Destinationen erkunden und die Familie im Interior wiedersehen, das habe ich in diesem Jahr vor. Die Menschenschlange ist diesmal eher klein, das obligatorische “Próximo“ kommt auch schneller als gewöhnlich, jedoch genauso harsch und unfreundlich wie stets, mein aufmunterndes “Bom-dia“ wird auch 15 Jahre später nicht erwidert.
Allerdings im Gegensatz zu 1994, als ich mich noch wunderte, dass die angeblich lebenslustigen, liebenswerten Brasilianer so unfreundlich sein können, weiss ich nun, dass dies hinsichtlich der Gesamtbevölkerung eine Ausnahmeerscheinung ist, aber vor allem bei offiziellen Stellen und Ämtern die Regel. Über das Warum gibt es viele Thesen und Ansichten, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen möchte.
Das gebrüllte “Proximo“ wird heutzutage zunehmend von einem nummerierten Papierstreifen – einer so genannten “Senha“ – ersetzt, die in der Bäckerei, in der Bank, im Amt, auf der Post, ja sogar in manchen stark besuchten Restaurants, Einzug gehalten hat. Dadurch entgehen Einheimische wie Gringos solchen Launen unterbezahlter und unmotivierter Angestellter in den Ballungszentren.
Doch es gibt auch Erfreuliches über den brasilianischen “Próximo-Kult“ zu berichten: In Ilhéus, Canavieiras oder Una zum Beispiel – den drei Destinationen im Bundesstaat Bahia, die wir in diesem Jahr erkundet haben – verbindet man das “Próximo“ überall mit einem unwiderstehlichen Lächeln und eventuell sogar mit einer lockeren Unterhaltung – dies ist das wahre Brasilien, welches der Vorstellung eines Touristen am nächsten kommt. Und dieses fast schon liebenswerte “Próximo“ ist in vielen Landesteilen Brasiliens glücklicherweise immer noch die Regel.
Auch bei einer der ersten Amtshandlungen des neuen Bürgermeisters von Indaiatuba SP, der ich beiwohnen durfte, und zu deren Anlass dieser an mehr als 300 Kinder einer Armensiedlung verspätete Weihnachtsgeschenke in Form von Fussbällen, Puppen, Spielzeugautos u.a.m. verteilte, brachte dieser mit einem freundlichen, einladenden “Próximo“, die ungeduldig wartende Kinderschar und die Herzen ihrer Eltern in Bewegung – ob aus Sentimentalität oder politischer Berechnung, das bleibt sein Geheimnis.
Mit diesen eigentlich sehr positiven Eindrücken aus dem “Land wie ein Kontinent“, freue ich mich schon auf unsere “Próxima Viagem“ im nächsten Jahr. Und ich bin durchaus optimistisch, dass in naher Zukunft vielleicht auch die brasilianischen Zollbeamten ihre Gäste mit einem lächelnden “Próximo“ empfangen – so wie es bei den meisten Brasilianern durchaus noch üblich ist.