Der Wind und eine schneidende Kälte schienen unsere persönlichen Feinde zu sein in jener Nacht. Der Mond stand nur als schmale Sichel am Himmel und die Sterne glitzerten ebenfalls kalt herab. Immerhin konnte man beim schwachen Schein der Gestirne doch in etwa die Silhouette des Ufers erkennen, an dem unser Aluminiumboot vorbeirauschte. Wir waren acht Teilnehmer: Der Bootsführer, eine Familie aus der Schweiz, mit ihren beiden halberwachsenen Kindern, ein Paar aus Deutschland und meine Wenigkeit, der Reiseleiter – fast zuviel für ein Boot von acht Metern Länge – und dann noch die Benzinbehälter für den Motor und unser aller Gepäck.
Eigentlich lag es nicht in meiner Absicht, die Anfahrt zum Dorf der Yawalapiti in die Dunkelheit der Nacht zu verlegen, aber die Deutschen waren leider viel zu spät am Treffpunkt in Canarâna, Mato Grosso, angekommen – wegen eines Streiks der Airline hatten sie in São Paulo umbuchen müssen – und, weil wir dadurch knapp in der Zeit geworden, entsprachen wir dem Vorschlag unseres erfahrenen eingeborenen Bootspiloten Jonas, am selben Abend noch loszufahren. Ich bin mit Jonas seit langem befreundet – wir haben zusammen schon viele Angelsportler zu den besten Fischgründen im Mato Grosso gebracht – daher weiss ich, dass er die Position jeder einzelnen Sandbank im Fluss genau kennt und man sich seiner grossen Erfahrung und seinen Luchsaugen getrost auch nachts anvertrauen kann. Also verabschiedeten wir uns endlich von meinen lieben Freunden, den Besitzern einer Fazenda am Ufer des Rio Xingu.
Unser Boot schiesst in die Mitte des Flusses – zusammengekauert, und trotz ihrer dicken Schwimmwesten noch zusätzlich in Decken gehüllt, starren unsere Gäste auf einen imaginären Horizont, der zwischen dem dunklen Wasserspiegel und dem kaum beleuchteten Himmel in dieser Nacht kaum auszumachen ist. Die Dunkelheit ringsherum, die wärmende Decke und das gleichmässige Brummen des Aussenborders sind überzeugende Argumente für ein kleines Nickerchen, selbst in dieser wenig bequemen Sitzposition – die Schwimmweste stützt den müden Rücken ein bisschen. Zwischendurch werde ich wieder wach und bemerke, dass im Fluss jetzt mehrere weiss schimmernde Sandbänke zu erkennen sind. Jonas, am Steuer im Heck, hat sie längst gesehen und die Geschwindigkeit zurückgenommen – zu mir nach vorne macht er ein beruhigendes Handzeichen – und nach einem Blick auf meine zusammengekauerten, dösenden Schäfchen, nicke auch ich wieder ein.
Und dann bin ich plötzlich hellwach – irgendetwas hat fürchterlich gekracht – oder hab‘ ich das nur geträumt? Alle andern sind auch wach – schlaftrunkene Fragen schwirren herum – niemand weiss sie zu beantworten, ich auch nicht. Der Motor brummt unverändert – aber Jonas steuert jetzt in einem Bogen das Ufer an, auf einer Landzunge können alle aussteigen, um die müden Glieder zu strecken. Wir ziehen das leere Boot ganz aufs Land, Jonas klappt den Aussenborder hoch und besieht sich besorgt die Antriebsschraube, mit Hilfe einer Taschenlampe. Dann macht er wieder ein zufriedenes Gesicht und erzählt mir endlich, was eigentlich los war – und ich muss sagen, noch im Nachhinein sträuben sich mir die Haare bei der Vorstellung, was da hätte passieren können: ein riesiger, im Wasser treibender Baumstamm war plötzlich aus der Dunkelheit vor dem Boot aufgetaucht – zu spät, um ihm mit einem Ausweichmanöver zu entgehen, also hatte Jonas den Motor voll aufgedreht und das aus dem Wasser ragende Drittel des Urwaldriesen im rechten Winkel übersprungen – es hatte gekracht als die Kielspitze des starken Alubootes von dem Baumstamm nach oben gedrückt wurde und der Rest unbeschadet über den schlüpfrigen Stamm schlidderte – eine Sache von Sekunden – und schon passiert, als unsere Gäste wach wurden. Kein Grund mehr sie nachträglich noch zu beunruhigen. Wir belassen es bei der Erklärung, dass wohl ein Ast oder ein Stein mit der Bootsschraube in Berührung gekommen sei.
Als wir uns erneut im Boot einrichten, dämmert es bereits, und dann wird die Sicht von Minute zu Minute besser – Nebelfetzen hängen in den von der Nacht noch verteidigten Buchten – es ist feuchtkalt, und bevor Jonas den Motor startet, sehe ich, wie er sich flüchtig bekreuzigt. Ich ziehe meine Decke enger, den Hut tiefer ins Gesicht und nicke langsam wieder ein.
Diesmal werde ich durch das Klicken eines Kameraverschlusses wach – die ersten Strahlen der Sonne beleuchten eine Idylle, die unseren Gästen wie eine Szene aus dem Paradies erscheinen muss: an einem Flussstrand, ein splitterfasernacktes indianisches Paar mit ihrem kaum dem Babyalter entwachsenen Sohn, beim morgendlichen Bad. Ich schaue auf meine Uhr – es ist 5h30. Andere Indianer kommen hinzu – unter ihnen erkenne ich meinen Freund Takumã, Häuptling und Medizinmann des Kamaiurá-Stammes – die Begrüssung ist herzlich – meine Gäste sind fast ausser sich vor Entzücken. Mir fallen meine ersten Begegnungen mit den Xavante-Indianern vom Rio das Mortes wieder ein – ich weiss, was in ihnen in diesem Moment vorgeht.
Wir setzen unsere Bootsreise in Richtung des Yawalapiti-Dorfes ohne weitere Zwischenfälle fort – gegen 9h30, nach acht Stunden Fahrt auf dem grossen Fluss Xingu, erreichen wir die Mündung des kleineren Rio Tuatuarí, an der das Dorf liegt. Alle helfen, das Boot auf den Sand zu ziehen und mit einer Kette an einem überhängenden Ast zu befestigen.
Niemand muss sein Gepäck schleppen – die halbwüchsigen Knaben der Yawalapiti tun das für uns, nachdem wir von den gerade im Dorf anwesenden Männern begrüsst worden sind. Die meisten kennen mich von anderen Besuchen, lächeln mir zu, halten sich jedoch bescheiden zurück. Wir werden zur Oca (Hütte) von Waripirá und seiner Frau Keheri geführt, sie sind Cousins des Häuptlings Aritâna und seiner Schwester Yâna. Unser Gepäck wird auf einer Art Holzgrill auf Beinen, dem Jirau, abgestellt, vor unseren Hängematten, die vom Herrn des Hauses persönlich aufgespannt werden. Und dann servieren uns die Gastgeber ein Frühstück – mit gebackenen Maniok-Fladen, geräuchertem Fisch, einem Brei aus Tapioca und – man höre und staune – Kaffee! Ich schaue mir unsere Gäste einzeln an, wie sie da im Schneidersitz vor dem grossen Keramik-Tablett sitzen, das Keheri uns hingestellt, und auf dem sie unter den Speisen eine grüne Tischdecke aus frischen Bananenblättern eingezogen hat – wir schlingen mit Appetit und leuchtenden Augen. Keheri legt ab und zu ein Stück Holz in dem stets brennenden Feuer nach, um unseren Kaffee warm zu halten oder verscheucht eine Fliege, die sich am Fisch gütlich tun will – der übrigens allen zu schmecken scheint.