Nach unserer gemeinsamen Toilette im Fluss, bei der wir Gelegenheit haben, einen dieser malerischen tropischen Sonnenuntergänge zu erleben, fällt die Dunkelheit fast ohne Übergang auf die Natur und das Dorf. Die Stimmen der Nacht erwachen – der vielstimmige Chor der Trommelfrösche, der hohe Diskant der Zikaden – während die Menschen im Dorf langsam ruhig werden und sich in ihre Ocas zurückziehen.
So einer Oca wird man eigentlich nicht mit dem Begriff Hütte gerecht, denn erstens ist sie riesig – zwischen 20 bis 30 Meter Längsdurchmesser, 10 bis 15 Meter Breite und in ihrer Mitte zirka 8 bis 10 Meter hoch – und zweitens viel solider konstruiert als jedwede vorstellbare Hütte. Sie hat etwa die kugelige Form einer riesigen, ovalen Käseglocke und besteht aus einem soliden Holzgerüst, über das mehrere Lagen Palmstroh, bis zum Boden, so angebracht sind, dass der Regen abläuft – die Oca bleibt auch bei wochenlangen Regengüssen, zwischen November und März, vollkommen dicht. Ihr Giebel besitzt mehrere windgeschützte Rauchabzüge, die bei Bedarf verschlossen werden können. Ausser einem niedrigen Eingang, den man mit einer Matte ebenfalls zuhängen kann, gibt es in der gesamten Konstruktion keine Öffnungen oder Fenster, sodass im Innern stets ein kühles Halbdunkel herrscht – vier bis sechs Feuerstellen im Zentrum werden von den Bewohnern täglich benutzt und sind so perfekt konzipiert, dass ihr Rauch senkrecht zu den Abzügen aufsteigt, ohne die Augen zu reizen. In diesem riesigen Rund, von schätzungsweise 200 bis 450 Quadratmetern Raum, wohnen mehrere Familien – rund herum, zwischen der Aussenwand und den etwa drei Meter nach innen versetzten Stützpfosten, haben alle Mitglieder ihre Hängematten aufgespannt – davor jeweils ein hölzerner Tragerost, der Jirau, auf dem jeder seine paar Habseligkeiten verstauen kann. Bogen und Pfeile, Lanze oder Keule, stecken im nachgiebigen Stroh der Wandverkleidung.
Waripirá und Keherí kümmern sich rührend um uns. Unser Gastgeber, hat einen frischen Pintado-Fisch für uns gefangen, den Keherí wahrhaft köstlich in Bananenblättern gegart hat – es gibt sogar „Indianer-Salz“ – so nennen sie selbst eine aus Pflanzen gewonnene Substanz, die sie zum Salzen von Fisch oder Fleisch manchmal benutzen – in unserem Fall bedeutet dies eine willkommene Bereicherung. Das Trinkwasser stammt aus einer Quelle und wird in grossen, zugedeckten Tonkrügen, aufbewahrt. Dadurch hält es sich kühl und schmeckt angenehm. Wie die Indianer, ziehen auch wir uns bald nach dem Essen in unsere Hängematten zurück – jeder ist müde, nach der letzten zusammengekauerten Nacht im Boot und unseren vielen neuen Eindrücken von heute. Mir scheint, dass der erste Schock meiner Gäste mit der indianischen Realität besser überstanden ist, als ich gedacht hätte – die Nacht ist ruhig und die Indianer sind ruhige Schlafgenossen.
Noch bevor die Sonne aufgeht, sind alle wieder auf den Beinen – Keherí röstet schon unsere Beijus fürs Frühstück und lächelt uns zu. Ein ruppiger, noch ganz junger Papagei sitzt geradezu malerisch auf ihrer Schulter. Ab und zu kaut sie eine kleine Portion Maniokmehl gut durch, wendet dann ihren Kopf dem Vogel zu, und der nimmt ihr den gekauten Brei von den Lippen – klar, dass Andreas, noch vor dem Frühstück, wieder einen Film einlegt, um diese Szene nicht zu verpassen – und Keherí lässt sich ausgesprochen gern fotografieren – dem Papagei ist es offensichtlich egal.
Diesmal erzählt uns ihr Mann, Waripirá, der mit uns frühstückt, eine Geschichte, die sich als Appell an die Umweltverschmutzer dieser Welt entpuppt: „Als ich klein war, wusste ich gar nichts – wusste nicht, was die Welt ist und nichts von der Erde. Ich sorgte mich nicht um die Gewässer, die Wälder, die Tiere, die Fische oder andere Reichtümer der Natur. Die Nacht bedeutete für mich Ausruhen, der Tag war für mich Freude – nur Spiel mit den andern, ohne an etwas anderes zu denken. Für mich waren alle Flüsse sauber, und wer an den Ufern der Flüsse wohnte, war bei guter Gesundheit. Heute bin ich dagegen sehr in Sorge um die Flüsse, die Fische und um die Luft. Hier am Xingu leben wir zwar auf einem für uns reservierten Territorium, aber der Fluss kommt von weit her, und er nimmt unterwegs viele schädliche Dinge auf. Sein Oberlauf liegt ausserhalb unseres Reservats. Wir können seine Quellen nicht sehen, viele Quellen befinden sich innerhalb von Städten …
Vom Regen wird auch die Luft verschmutzt, denn die Sonne strahlt und das Wasser der Welt verdampft. Der Wasserdampf steigt hoch, mit der verschmutzten Luft zum Himmel – wird vom Wind mitgenommen und in Wolken verwandelt. Dann regnet es, und das verschmutzte Wasser kehrt zur Erde zurück. Die Verschmutzung der Luft kommt von weit her, von anderen Ländern, in denen es Krieg gab – in denen Bomben explodiert sind. All das verschmutzt die Luft und wir sehen es nicht. Es gibt Orte auf dem Planeten, wo keine Flüsse mehr existieren und keine Wälder. Deshalb müssen wir verhindern, dass man unseren Vater Xingu und unsere Mutter Wald verletzt.“ Dem gibt es nichts hinzuzufügen, höchsten, dass Jonas uns bei der Übersetzung half, der an diesem Morgen plötzlich wieder aufgetaucht war.
Als wir von unserer Morgentoilette im Fluss zurückkommen, stehen auf dem Dorfplatz bereits viele Indianer herum, die wir noch nie gesehen – sie scheinen dunkler als die Yawalapiti, wie aus Bronze gegossen. Es sind die vom Häuptling Aritâna geladenen Ehrengäste für den Quarup – die Waura – damit sie die besten Plätze für ihr Camp bekommen, wurden sie etwas früher hergebeten. Die Boten, welche alle Stämme des Oberen Xingu zum grossen Quarup der Yawalapiti offiziell einladen sollen, sind immer noch unterwegs – ab Mittag wird mit dem Erscheinen vieler weiterer Gäste gerechnet – bis zum Sonnenuntergang müssten dann die letzten eintreffen.
Und genau so geschieht es: die Kamaiurá und die Kalapâlo erscheinen zuerst, denn ihr Dorf ist nur wenige Kilometer von unserem entfernt. Dann die Meinaco – Matipú – Nahukuiá und Auweti – einige von ihnen kommen in schwer beladenen Einbäumen über den Fluss – und selbst die Kuikúro schaffen ihren längeren Marsch auch noch vor dem Sonnenuntergang. Ihnen allen werden Parzellen zwischen dem Dorf und dem Badeplatz am Fluss angewiesen, wo sie sich niederlassen können – zum Schlafen werden sie allerdings in den beiden bevorstehenden Nächten kaum kommen.
An diesem Freitagabend, als die letzten Strahlen der sinkenden Sonne hinter dem jenseitigen Ufer des Xingu verlöschen, beginnen die Indianer zu singen – erst die Yawalapiti, als Gastgeber und dann die Waura, als Ehrengäste. Dann präsentieren sich alle teilnehmenden Gäste gemeinsam auf dem grossen Platz vor den Ocas, auf dem morgen der Quarup stattfinden wird. Zum ersten Mal sehen wir den Häuptling Aritâna in vollem Ornat – ein breitschultriger, muskulöser Mann, mit einem kronenartigen Federschmuck in Rot, Gelb und Schwarz, befiederten Holzpflöcken in den Ohren, dicken Oberarmbändern aus weisser Baumwolle, und ebensolchen Baumwollbändern oberhalb der Wadenmuskel. Ein mit Federn verzierter Baumwollgürtel vervollständigt seine Festtracht – sein Gesicht, von der Stirn bis unter die Nase, ist mit der Farbe der Jenipapo (Jenipa americana) geschwärzt und sieht ziemlich furchterregend aus.
Glücklicherweise brauche ich Andreas und Martin nicht zurückzuhalten, ihnen ist schon selbst bei der Beobachtung dieser von allen Beteiligten sichtbar ernst genommenen Zeremonie klar geworden, dass hier Zurückhaltung angebracht ist. Inzwischen erklären wir – Jonas und ich – unseren Gästen ein paar Details zu ihrem besseren Verständnis dessen, was sie gesehen haben und noch sehen werden. Das heisst, Jonas erklärt es mir in Portugiesisch, und ich übersetze es ins Deutsche:
„Quarup“ (man kann ihn auch „Kuarup“ schreiben), ist das Fest der Indianer vom Xingu-Gebiet zu Ehren Verstorbener, die allgemein bekannt und beliebt waren, die sowohl politisch als auch wirtschaftlich viel für ihr Volk getan haben – kurz: grosse Führer, mutige Kämpfer und geschickte Diplomaten. Das alles war der alte Häuptling der Yawalapiti, Parú, Vater des jetzigen Häuptlings Aritâna, der Ende des Jahres 2001 in den xinguanischen Himmel aufgestiegen ist – um ihn und sein Andenken zu ehren, kommen alle die vielen Stämme zum diesjährigen Quarup. Und dann fügte Jonas noch hinzu: „Um 1950 herum gab es vom grossen, tapferen Stamm der Yawalapiti nur noch sechs Mitglieder, unter ihnen Parú und eine Schwester von ihm. Es ist dem grossen weissen Kämpfer für die Sache der Indianer und Gründer des Parque Indigena do Xingú, Orlando Villas Boas, zu verdanken, dass die Yawalapiti heute wieder zu einem Volk von rund 200 Mitgliedern angewachsen sind: es gelang ihm nämlich, alle persönlichen und kulturellen Differenzen zwischen dem Volk der Kamaiurá und den Yawalapiti zu überwinden und Parú mit der Schwester des heutigen Häuptlings der Kamaiurá, Takumã, zu verheiraten und seine Schwester, mit einem Mann vom Stamm der Kuikúro. Auch die anderen Vier heirateten Mitglieder aus diesen beiden Ethnien, und so sprechen die Yawalapiti heute, ausser ihrer eigenen, auch zwei Fremdsprachen!“