Wir schlafen in dieser Nacht nicht so tief, wie in der vorigen. Einerseits sind meine Gäste besorgt, dass sie etwas verpassen – wir halten es aber für besser, dass sie nicht mit ihren Blitzgeräten zwischen den tanzenden Indianern herumspringen, und Jonas versichert ihnen glaubwürdig, dass das eigentliche Fest morgen erst beginnt. Andererseits lässt uns das an- und abschwellende kehlige Grölen kein Auge zutun – zwischenzeitliche schrille Schreie, die anscheinend auch zum Zeremoniell gehören, jagen uns eine Gänsehaut über den Rücken.
Trotzdem haben alle diese Nacht irgendwie überstanden. Agnes hat kein Kopfweh mehr – dafür hab ich’s jetzt – habe kaum ein Auge zugetan. Ein Jammern und Klagen liegt in dieser Morgendämmerung über dem Dorf. Keherí ist nicht da, aber der gute Waripirá bringt uns unser Frühstückstablett – wir erkennen ihn kaum wieder, unter seiner Bemalung und mit seinem farbigen Kopfschmuck. Lächelnd stellt er sich ein paar Blitzaufnahmen im Innern unserer Oca. Diesmal schlingen wir nur schnell ein paar Happen herunter und schlüpfen dann gespannt nach draussen.
Scheint aber nicht viel los zu sein. Auf den ersten Blick erscheint der grosse Platz leer. Dann entdecken wir eine Gruppe Männer, Frauen und Kinder, die sich an einem etwa meterlangen Stück Baumstamm zu schaffen machen – die Männer haben ihn hochkant auf den gestampften, glatten Boden des Dorfplatzes gesetzt und so verkeilt, dass er nicht umfallen kann. In seinem oberen Drittel haben sie rundherum die Rinde etwa drei Handbreit entfernt. Das gelb schimmernde, glatte Holz wird nun an dieser Stelle von den Frauen mit schwarzen und roten Ornamenten bemalt – auch unsere Keherí ist unter ihnen und nickt uns verstohlen zu. Die ganze Gruppe – es sind auch Kinder dabei – ergeht sich dabei in einem traurig anzuhörenden Singsang, der von allen Seiten aus den umstehenden Ocas begleitet wird – jenes Jammern und Klagen, das wir schon während unseres Frühstücks bemerkt haben. Während wir der kleinen Gruppe bei ihrer dekorativen Arbeit zuschauen, ist es an Jonas, uns ein bisschen erklärend auf die Sprünge zu helfen:
„Ein heiliger Baum – sie nennen ihn „Kam’ywá“ – liefert den Stamm, welcher den zu verehrenden Geist verkörpert – in diesem Jahr den Geist von Parú, der ein Yawalapiti war. Deshalb veranstalten seine Angehörigen und seine Stammesmitglieder den Quarup. Die den Stamm für das Fest herrichten, das heisst bemalen und schmücken, sind seine direkten Familienangehörigen – die Söhne, Töchter, Geschwister und Ehepartner. Der Veranstalter des Festes, in diesem Fall Aritâna, der Sohn von Parú, wählt einen befreundeten Stamm als Ehrengäste und schickt Boten aus, um alle die einzuladen, die Parú geschätzt haben – dass so viele gekommen sind, bedeutet für Aritâna und die Yawalapiti eine grosse Ehre.“
Erst jetzt bemerke ich, dass auch Aritâna selbst sich zwischen die kleine Gruppe gehockt hat und letzte Hand an die Bemalung des Baumstamms legt. Sein Gesicht ist abgeschminkt, nur auf dem helmartigen Haarschopf glänzt jener handbreite Streifen dicker roter Urucum-Paste. In der Hand hält er ein dünnes Stöckchen, umwickelt mit Rohbaumwolle, das er als Pinsel benutzt und immer wieder in eine Kalebasse mit schwarzer Farbe taucht, wenn der Farbkopf trocken geworden ist. Von der Gegenseite malt Keherí das gleiche schwarze Ornament auf das Holz – auch ihre Farbe stammt von der Jenipapo-Frucht. Es ist erstaunlich, welche Geschicklichkeit beide Künstler dabei entwickeln – Andreas verfolgt ihre Arbeit, Abschnitt um Abschnitt, mit seiner Kamera – Evelyn und Martin fotografieren – die Jungen Peter und Robert werden von zwei kleinen bronzefarbenen Knirpsen im Gesicht bemalt und haben sich dafür in die Hocke begeben müssen – Agnes schaut fasziniert zu.
Und Jonas erzählt uns noch etwas aus der Mythologie der Indianer vom Xingú: „Der grosse Geist Maivotsinim schüttelte seinen weissen Haarschopf und schuf zwölf Baumstämme, die er in einem Kreis anordnete. In ihrer Mitte entzündete er ein Feuer. In der Nacht weinte er und sang in Erwartung der Schöpfung. Erst mit der aufgehenden Sonne wurden die Stämme lebendig. Männer und Frauen der reinsten Linie. Die ersten Menschen des Xingu waren geschaffen.“
Und er fährt fort – denn unsere Gäste lauschen aufmerksam jedem seiner Worte: „1961 wurde dieser Lebensraum zwar für 15 verschiedene Stämme gegründet, aber drei davon waren bereits aus anderen Gebieten eingewandert – so wie wir heute mehr als zwanzig verschiedene Indianervölker im Gebiet des Xingú geworden sind – wir haben die aufgenommen, welche vor der Gewinnsucht der weissen Bevölkerung aus ihren angestammten Gebieten fliehen mussten. Heute bewahren wir hier jahrhundertealte Sitten und Gebräuche und 17 verschiedene Indianersprachen. Der Quarup ist unser grösstes und wichtigstes Fest in Verehrung der Kinder der zwölf Baumstämme – und der Toten unserer Gemeinschaft. Aber es ist auch ein Fest des Lebens, das die Seelen der Toten befreit: wenn der Baumstamm zuletzt dem Wasser des Xingu übergeben wird, damit seine Seele ungestört entweichen kann, dann wiederholt sich die Schöpfung des grossen Maivotsinim – die Welt wird wiedergeboren, und der Friede – denn Friede ist etwas für die Lebendigen.“
Ein alter Mann bringt die meterlangen Baumwollbinden herbei – sie bestehen aus Hunderten von gedrehten Baumwollfäden, die zusammengefasst, wie Binden aussehen – in diesem Fall sind sie von dem alten Mann, einem Künstler des Stammes, in handbreite Abschnitte von Gelb und Rot eingefärbt worden – immer abwechselnd und über ihre gesamte Länge. Aritâna und der alte Mann umwickeln nun den oberen kürzeren Teil des Stammes, auf dem die Rinde stehen geblieben ist, mit einer Lage der eingefärbten Baumwolle – das abwechselnde Gelb und Rot kontrastiert gekonnt mit dem Schwarz der aufgemalten quadratischen Ornamente von beiden Seiten. Jetzt kommt der untere Teil dran – er bekommt drei Lagen der gefärbten Baumwolle untereinander, und zwar in den Farben so versetzt, dass sich auch über die drei Lagen nach unten die gelben Felder mit den roten abwechseln, also insgesamt eine schachbrettartige Musterung entsteht – der Rest des Baumstamms bleibt, wie er ist.
Letzter Abschnitt der Dekoration: eine grosse Federkrone wird von Aritâna um den Stamm gebunden – und da wird es ganz deutlich: der Stamm sieht jetzt aus, wie ein riesiger Kopf auf einem langen Hals – die beiden schwarzen quadratischen Ornamente, rechts und links, sind die Augen, ein von der Stirn nach unten ragender Federbusch bildet den Nasenrücken. Sieben riesige Schwanzfedern von der Harpyie, Südamerikas grösstem Raubvogel, werden abschliessend in den Stirnteil der Federkrone eingesteckt – jetzt hat der Kopf sein dekoratives Gleichgewicht erreicht. Aritânas Schwester Yâna bringt in einem Deckelkorb die wenigen persönlichen Sachen ihres verstorbenen Vaters herbei, und zusammen breiten sie sie auf dem abgeflachten oberen Teil des Stammes aus, wie auf einem Tischchen: seinen Kopfschmuck aus Falkenfedern, eine grosse Halskette aus Muschelschalen, die Glasperlenschnur, die er als Gürtel trug, und einige andere Objekte. Wie zum Zeichen, dass die Vorbereitungen getroffen sind, erheben jetzt alle ihr Klagen zu einem weithin hörbaren Trauerchor, der wiederum von den Ocas her beantwortet wird – dann verschwinden alle in ihren Behausungen, um sich für das eigentliche Fest zu bemalen und zu schmücken.
Andreas wird ungeduldig und fragt, ob schon alles vorbei sei! Jonas beruhigt ihn, dass es jetzt erst anfängt. Immerhin geht es bereits auf den Nachmittag zu, und keiner von meinen Gästen möchte zwischendurch etwas essen, um nichts zu verpassen – mir gefällt ihre Einstellung. Wir haben es uns unter einem schattigen Strohdach am Rand des Dorfplatzes bequem gemacht – Andreas hat ein riesiges Stativ aufgebaut, um absolut verwacklungsfreie Aufnahmen zu bekommen – Martin und Evelyn nehmen es gelassener – wir harren der Dinge, die da kommen sollen, während ich meine Feldflasche mit kühlem Wasser aus unserem Yawalapiti-Tonkrug kreisen lasse.
Und sie kommen. Es ist 17h00 am Nachmittag, die Sonne steht für Andreas‘ Aufnahmen „leider“ schon sehr tief, als aus allen Ocas gleichzeitig die Frauen auftauchen und der Mitte des Dorfplatzes zustreben, wo der geschmückte Stamm aufgestellt ist. Alle sind vollkommen nackt, mit kunstvoll bemalten Körpern, die Haare frisch eingeölt und mit den schweren Schnüren ihrer schönsten Keramikperlen behängt – wobei blau ihre bevorzugte Farbe zu sein scheint. In selben Moment müssen alle andern ebenfalls mit ihrer Bemalung fertig geworden zu sein, denn von allen Seiten strömen die Familien jetzt auf den Platz, um mit ihrem Wehklagen den Toten zu ehren der dort durch den heiligen Baum Kam’ywá repräsentiert wird. Und dann kommen die bronzefarbenen Waura mit ihrem Totengesang, den sie in beeindruckender Formation darbieten, und deren schrille Zwischenrufe ein besonderer Effekt sind, der ordentlich unter die Haut geht – bei uns allen.