“Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht” von Edgar Reitz widmet sich der deutschen Auswandererwelle nach Brasilien im 19. Jahrhundert.
Nach seiner 3-teiligen Heimat-Saga kam im Oktober Edgar Reitz’ neuer Film in die Kinos: das Epos spielt in einem fiktiven Ort Schabbach im Hunsrück, Mitte des 19. Jh. In diesem Film beschreibt der Regisseur in grossartigen Bildern die Zeit der Auswanderungswelle aus Deutschland nach Brasilien.
Als Europa in der Mitte des 19. Jh. von Hunger, Armut und Willkürherrschaft heimgesucht wurde, suchten Hunderttausende von Europäern ihr Glück in den Weiten Südamerikas.
Der fast vierstündige Film hatte sein Debüt auf den Filmfestspielen von Venedig und kam am Tag der Deutschen Einheit in die deutschen Kino’s. Es ist der 4. Film der “Heimat-Saga” des 81-jährigen deutschen Regisseurs, die er vor 30 Jahren begann.
Der erste Teil der Serie “Heimat” brachte Edgar Reitz Anfang der 80er Jahre einen der grössten Erfolge des deutschen Kino’s. Der Film entfachte eine Debatte um den Begriff “Heimat”, der so nach vielen Jahren wieder positiv besetzt werden konnte.
“Heimat”- Die Folgen 1, 2 und 3
Als 1984 “Heimat 1” im Fernsehen ausgestrahlt wurde, verfolgten Millionen von Zuschauern aufmerksam die Geschichte der drei Familien aus dem fiktiven Dorf Schabbach im Hunsrück zwischen 1919 und 1982. Die Geschichte beginnt mit Paul Simon’s Rückkehr nach Hause, nachdem er infolge des verlorenen ersten Weltkriegs eine Zeit in einem Gefangenenlager verbracht hatte. Die Geschichte der drei Familien vermischt sich mit der Geschichte Deutschlands.
1992 drehte Reitz die Fortsetzung der Serie mit dem Film “Die zweite Heimat-Chronik einer Jugend”, in dem er die Geschichte Hermanns, eines der Simon-Söhne erzählt, der Schabbach verlässt, um in München Musik zu studieren. 2004, in Heimat 3, trifft Hermann seine alte Liebe Clarissa in der Nacht des Mauerfalls in Berlin. Die beiden kehren gemeinsam in den Hunsrück zurück, auf den Spuren der Wurzeln Hermanns.
Obwohl die beiden letzten Spielzeiten der Serie nicht den Erfolg der ersten erreichten, bemerkte die österreichische Journalistin Erna Lackner: ”Der Regisseur Edgar Reitz hat etwas erreicht, was bisher noch keinem Autor in der deutschen Literatur gelungen ist: das 20 Jh. als Roman mit vielen Lebensgeschichten zu erzählen. Ein solider Erfolg für die Kino-Kunst.”
Glück in der Neuen Welt
Als er seine Trilogie beendet hatte, schien es, als ob die Heimat-Saga zuende sei. Doch nun beschliesst Reitz sein Hunsrück-Universum mit “Die andere Heimat”: eine Art Prequel (zeitlich vorangestellte, aber später verfilmte Folge, wie z.B. die 3 neueren Folgen von Star-Wars, die den Originalen aus den 70er Jahren vorangestellt wurden) : Der Film taucht ein in die Tiefe der Vergangenheit Schabbachs in der Mitte des 19. Jh. Dort erkennen zwei Brüder, dass sie nur ein Traum aus dem Dorf retten kann, in dem sie leben.
Der jüngere Bruder Jakob bricht mit allen Grenzen, die einem jungen Bauern gesetzt sind. Er liest alle Bücher, die ihm unter die Hände kommen, lernt eine Indianersprache und plant romantische Abenteuer in den brasilianischen Urwäldern. Er träumt von einem Neuanfang in einer neuen Heimat, obwohl ihm Schicksalsschläge die Verwirklichung seines Traums erschweren.
In grossen epischen Bildern erzählt der Film den Auszug der deutschen Bauern und Handwerker nach Rio Grande do Sul, nach Brasilien, in die Neue Welt. In unendlichen Karawanen von Pferdewagen durchqueren die Emigranten Berge und Täler entlang des Rheins in Richtung der Hafenstädte, wo Schiffe sie erwarten, um sie auf eine Reise ohne Rückkehr mitzunehmen, auf der Suche nach dem Glück.
Verlorene Heimat
Wie die anderen Teile des Epos fesselt auch der neue Film durch die minutiöse Beobachtung und die Poesie. Er dokumentiert, wie die ökonomischen Schwierigkeiten Hunderttausende aus ihrem Heimatland vertrieben. Gleichzeitig zeigt der Film, wie die Erziehung und die Lektüre der Vorstellung Flügel verleihen und dem Wunsch, neue Länder kennenzulernen.
Mit Jan Dieter Schneider (Jakob) und Maximilian Scheidt (Gustav) in den Hauptrollen und dem gefeierten Filmemacher Werner Herzog in der Rolle des Alexander von Humboldt, wurde “Die andere Heimat” an Originalschauplätzen im Hunsrück gedreht, wo auch Regisseur Edgar Reitz geboren wurde.
Als der 81-jährige Filmemacher über seine Heimat befragt wurde, antwortete er:” Ich glaube, dass das, was wir Heimat nennen, ein Gefühl ist, dass nur durch künstlerische Verwirklichung Bestand hat. In Wirklichkeit ist Heimat immer etwas Verlorenes.”
Der Film hatte seine Uraufführung in Simmern im Hunsrück. Wie die Rhein-Zeitung erinnert, waren der Hunsrück und andere ländliche Gegenden im Südwesten Deutschlands sehr arm. Deswegen verliessen die Menschen ihr “Schabbach”, um in Gegenden wie Rio Grande do Sul in Süd-Brasilien ihr Glück zu versuchen.
Am Tag der Uraufführung in Simmern wurde eine Patenschaft zwischen dem rheinländischen Städtchen und dem riograndensischen Städtchen Igrejinha geschlossen. Aus dieser kamen in den vergangenen Jahren mehrfach Reisegruppen in den Hunsrück, um die Heimat ihrer Ahnen kennenzulernen. “Sie machen eine Reise in die eigene Vergangenheit, in die andere Heimat”, kommentierte die Rhein-Zeitung.
Kritiken-Zitate
“Ein süßliches Heimatfilm-Happy-End ist das nicht. Dazu sind im Verlauf der Erzählung zu viele Kinder gestorben. Die Bilder des hageren Landarztes in seiner Hilflosigkeit gegen die Diphtherie-Epidemie haften im Gedächtnis ebenso wie die stumm verzweifelter Abschiede, wenn sich wieder einmal Familien in die langen Auswanderertrecks einreihen. Hunderttausende wurden so in wenigen Jahrzehnten aus Südwestdeutschland hinausgespült, bevor die Industrialisierung die Massen verarmter Landbevölkerung schluckte. An dieses oft vergessene Kapitel deutscher und europäischer Geschichte zu erinnern ist nicht das geringste Verdienst der vierten „Heimat“.“ – Die Welt
“Hier wird […] nicht Vergangenes, Entschwundenes nachbebildert, sondern eine Zeit von innen heraus mit Leben gefüllt. […] Ein Gutteil der Größe von “Die andere Heimat“ liegt in einer Perspektivverschiebung. Edgar Reitz wirft einen Blick auf Deutschland und damit auf ein Westeuropa, das sich heute gern als von Fremden überflutete Einwandererregion sieht und doch selbst einmal ein Kontinent der verzweifelten, hoffenden Auswanderer war.“ – Taz