Die Politkrise verschärft sich. Brasiliens Präsident Michel Temer hält trotz aller Wirren um ihn an seinem Amt fest. Nachdem der Oberste Gerichtshof am Donnerstagnachmittag die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen Temer bekanntgegeben hat und ihm angesichts der jüngsten Korruptionsenthüllungen die Basis weggebröckelt ist, gibt es eigentlich kein Halten mehr für den ehemaligen Vize-Präsidenten Dilma Rousseffs. Der stellt indes auf stur. “Ich werde nicht zurücktreten, ich wiederhole ich werde nicht zurücktreten“, sagte er in einer landesweiten Ansprache.
Sein Niedergang ist allerdings vorgezeichnet. Mit dem Bekanntwerden von belastenden Gesprächsmitschnitten am Mittwochabend zieht sich die Schlinge enger zu. Am turbulenten Donnerstag haben sich die Nachrichten beinahe minütlich überschlagen. Noch am Vormittag hieß es, Temer denke nicht an einen Rücktritt, dann wurde fest damit gerechnet bis er um 16:09 Uhr sichtlich erregt und aufgebracht in einer Ansprache den Spekulationen ein vorläufiges Ende gesetzt hat.
“Meine Regierung hat diese Woche ihre besten und auch ihre schlimmsten Momente erlebt“, so Temer. Er verwies dabei auf die jüngst veröffentlichten Wirtschaftsdaten, die ein besseres Szenario erwarten ließen. Bestätigt wurden eine sinkende Inflation, die Schaffung von Arbeitsplätzen und eine, wenn auch langsame, Rekuperation der Wirtschaft.
Die bekannt gewordenen Gesprächsaufzeichnungen, die seine Zustimmung zur Zahlung von Schweigegeld enthalten, bezeichnete er als “clandestino“, heimlich und illegal. Diese selbst wurden am späten Nachmittag von der Justiz freigegeben und am Abend in den verschiedensten Medien wiedergegeben.
Stattgefunden hat Donnerstagfrüh ebenso eine vom obersten Richter, Edson Fachin, genehmigte Polizeioperation mit mehreren Hausdurchsuchungen und acht Festnahmen. Im Ziel standen unter anderem der Vertrauensmann Temers Rodrigo Rocha Loures, der bei der vermutlichen Übergabe von Schmiergeld gefilmt wurde, sowie Senator Aécio Neves, Präsident der Mitte-Rechts-Partei PSDB und Aliierter Temers.
Festgenommen wurden die Schwester Aécios, Andrea Neves und ebenso dessen Cousin, der Schmiergeld im Namen Aécios entgegen genommen haben soll, während Aécio selbst von seinem Amt als Senator vom Obersten Gerichtshof suspendiert wurde.
Die Bevölkerung fragt sich währenddessen, wie es weitergehen soll. Als Folge der Veröffentlichung von belastenden Ermittlungsergebnissen und Aussagen ist dem 76-Jährigen Temer erdrutschartig die Basis abhanden gekommen. Einzelne Minister haben noch am gleichen Tag ihren Rückzug angekündigt und Oppositionsparteien haben bis zum Abend gleich acht Anträge für ein Amtsenthebungsverfahren gestellt. Dass Temer an seinem Amt festhält wird hingegen selbst von Mitgliedern verbündeter Parteien kritisiert. Jetzt sei es an der Zeit, an Brasilien zu denken und nicht an den eigenen Scheffel, lautet der Grundton.
Ein Regieren unter diesen Umständen dürfte schwierig sein. Dass dies auf Kosten des Volkes geht, zeigt das Beispiel Rousseffs. Sie stand nach dem Antritt ihrer zweiten Amtsperiode (Januar 2015) einer absoluten Blockadehaltung des Kongresses gegenüber, was die heraufziehende Wirtschaftskrise nur verstärkt hat. Auch die jüngsten Geschehnisse werfen bereits Schatten auf die Wirtschaft. Brasilianische Börsenwerte sind abgesackt und der Real hat umgehend an Wert verloren.
Wie schon am Mittwochabend, sind auch Donnerstagnacht in etlichen Städten des Landes wieder tausende Menschen auf die Straßen gegangen. In Rio de Janeiro ist es dabei zu einem Aufeinandertreffen der nicht gerade zimperlich reagierenden Polizei und Demonstranten sowie zu Ausschreitungen gekommen. Mit weiteren Protesten darf am Wochenende gerechnet werden, so Temer nicht, wie gefordert, vorher abdankt.
Das Amt hat der konservative Politiker am 31. August 2016 nach der Amtsenthebung wegen Bilanztricks der damaligen Präsidentin, Dilma Rousseff, übernommen, nachdem er es vorher schon seit Mai als Interim geführt hatte. Abgesehen von dem jetzt eröffneten Ermittlungsverfahren am Obersten Gerichtshof (STF) erwartet den Präsidenten Anfang Juni beim Wahlgericht ein Prozess, bei dem es um die Frage geht, ob das ehemalige Kandidatenduo Rousseff-Temer (Präsidentin und Vizepräsident) im Wahlkampf 2014 Geld aus “Caixa 2“ (Schwarzgeldkassen) verwendet oder davon gewusst hat. Nach den neuesten Enthüllungen dürfte es für Temer schwierig sein, seine von ihm beteuerte Unschuld zu beweisen.
Sollte Temer tatsächlich sein Amt aufgeben müssen, gibt es ein neues Kopfzerbrechen. Theoretisch würden dann Parlamentspräsident und Senatspräsident zu Interims. Gegen beide laufen jedoch ebenso im Korruptionsskandal der Operation Lava-Jato Prozesse, was eine Amtsübernahme eigentlich ausschließt.
Bleibt die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes, Richterin Cármen Lúcia, die unter Kollegen und Bevölkerung großes Ansehen genießt. Sie hätte dann 30 Tage Zeit, um indirekte Wahlen auszurufen, bei denen die Kongressmitglieder einen neuen Präsidenten wählen würden. Für direkte Neuwahlen durch die Bevölkerung gibt es hingegen derzeit keine gesetzliche Grundlage.
Ausgelöst hat der politische Erdrutsch noch ein anderes Phänomen, eine in den vergangenen Jahren nicht vorhandene Einigkeit. In den sozialen Netzwerken ist der scharfe Ton zwischen den Anhängern der linken Arbeiterpartei PT und den konservativen Mittelstandsparteien verschwunden. Statt einer Polarisierung werden einhellig ein Absetzen korrupter Politiker egal welcher Partei sowie Neuwahlen gefordert.
Relativ neu ist auch, dass mittlerweile landesweit auf sämtlichen Ebenen korrupte Pratiken im Zentrum der Ermittlungsbehörden stehen und es tatsächlich zu Verurteilungen kommt. Bleibt die Hoffnung, dass das politische Beben eine Grundsanierung und ein Umdenken mit sich bringt.