Zum ersten Mal standen sich bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien ein amtierender Präsident und ein Ex-Präsident gegenüber. Keiner von beiden hat das Rennen gemacht. Vielmehr wird es am 30. Oktober einen zweiten Wahlgang geben. Mit 48 Prozent der ausgezählten Stimmen hat Ex-Präsident Lula Inácio da Silva zwar mit etwas mehr als fünf Prozent mehr Stimmen erreicht, als Präsident Jair Messias Bolsonaro, für ein eindeutiges Ergebnis hat das aber nicht gereicht.
Auch wenn Bolsonaro hinter Lula liegt, verzeichnet er dennoch Gewinne. Mit über 50 Millionen Stimmen hat Bolsonaro mehr Stimmen erhalten als 2018. Verstärkung erhält er auch im Senat. Dessen Mehrheit stand dem Rechtspopulisten bisher kritisch gegenüber. Mit dem Wahlergebnis vom Sonntag ändert sich dies.
Von den 27 zur Wahl gestandenen Senatssitzen sind direkt 14 an Bolsonaristas gegangen und lediglich acht an Verbündete Lulas. Bis dato konnte Bolsonaro mit 16 Senatoren der eigenen und alliierter Parteien rechnen. Künftig werden von den insgesamt 81 Senatoren jedoch 37 Bolsonaro geneigten Parteien angehören. Am stärksten hat dabei die Partei PL zugelegt, der Bolsonaro angehört. Sie konnte die Zahl von acht auf 13 Sitze erhöhen und ist damit künftig die stärkste Partei des Senats.
Auch bei den neu gewählten Gouverneuren erhält Bolsonaro Rückenwind. In acht Bundesstaaten sind von ihm unterstützte Kandidaten im ersten Wahlgang gewählt worden, während Lula lediglich vier erreicht hat.
Bei etlichen Gouverneursposten hat es jedoch keine eindeutige Entscheidung gegeben. In zehn der 26 Bundesstaaten und des Hauptstadtdestriktes wird es einen zweiten Wahlgang geben. Kein eindeutiges Wahlergebnis für das Gouverneursamt wurde dabei in Amazonas, Alagoas, Pernambuco, Santa Catarina, Espírito Santo, Mato Grosso do Sul, Paraíba, Rondônia, São Paulo und Sergipe erreicht.
Zweigeteiltes Land
Der Wahlsonntag hat einmal mehr gezeigt, wie zweigeteilt das südamerikanische Land ist. Zur Wahl für das Präsidentschaftsamt standen eigentlich mehrere Kandidaten, darunter Senatorin Simone Tebet, die sich beim Untersuchungsausschuss zum Umgang der Regierung mit der Covid-Pandemie einen Namen gemacht hat. Dennoch konzentrierten sich die Stimmen von Anfang an, auf die zwei Kandidaten Lula und Bolsonaro. Die Rede war von der Wahl der Giganten.
Beide Giganten hatten jedoch mit großen Vorbehalten zu kämpfen. Bolsonaro ist Umfragen zufolge einer der unbeliebtesten Präsidenten des Landes. Ende September haben nach einer Datafolha-Umfrage nur 32 Prozent die Administration der Bolsonaro-Regierung befürwortet. 51 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Bolsonaros Aussagen auf keinen Fall Glauben schenken würden.
Aber auch Lula hatte starken Gegenwind. 2018 konnte er wegen einer rechtskräftigen Verurteilung durch den damaligen Richter Sergio Moro nicht an den Wahlen teilnehmen. Später wurde seine Verurteilung aufgehoben, weil das Landesgericht nicht zuständig gewesen sei. Moro wurde zudem Befangenheit unterstellt. Von Lulas Gegnern war dies dennoch Zündstoff für den Wahlkampf. Bolsonaro bezeichnete seinen Kontrahenten mehrfach als „Dieb“ und „Ex-Gefangener“.
Bei den Umfragen zu einem möglichen Wahlausgang lag dennoch von Beginn an der linksgerichtete Lula vor dem Rechtspopulisten Bolsonaro. Bei den letzten Umfragen wurden ihm 48 Prozent der Stimmen eingeräumt, gegenüber 36 bis 38 Prozent für Bolsonaro. Allerdings deuteten die Umfragen bis zuletzt auch auf einen zweiten Wahlgang hin. Der wird dann notwendig, wenn keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen erreicht.
Verzögerung der Stimmauszählung durch Andrang bei Wahllokalen
Eigentlich hatten bei Umfragen kurz vor dem Wahlsonntag 90 Prozent den Wunsch einer Entscheidung im ersten Wahlgang ausgedrückt. Gerechnet wurde mit einem größeren Andrang der Wahlberechtigten als 2018. Schon kurz nach Öffnen der Wahllokale bildeten sich auch vielerorts Warteschlangen. In wenigen Stunden hatte Medienberichten zufolge bereits ein Drittel der über 156 Millionen Wahlberechtigten seine Stimme abgegeben.
Die Warteschlangen rissen aber bis zum Abend nicht ab. Geschlossen wurden die Wahllokale um 17 Uhr. Allerdings wurde weiter gewählt, um allen bis 17 Uhr anwesenden Bürgern das Wahlrecht zu gewähren. Statt vor den Schulen, wurde ab 17 Uhr in den Schulen gewartet und weiter gewählt. Das hatte zur Folge, dass sich die Auszählungen verzögerten.
Ein erstes Ergebnis war eigentlich bereits ab 19 Uhr erwartet worden. Ein Trend zeichnete sich hingegen erst ab 20 Uhr ab. Bei der Auswertung zeigte sich ebenso, dass mit 20 Prozent ein ähnlich hoher Prozentsatz der Wahlberechtigten wie 2018 auf eine Stimmabgabe verzichtet hat.
Einen Rekord hat es bei den gültigen Stimmen gegeben. Über 95 Prozent der 123,6 Millionen abgegebenen Stimmen wurden als gültig eingestuft und damit so viel wie noch nie. Die Zahl der „Weißwähler“, der Stimmenthaltungen und die der ungültigen Stimmen lag bei lediglich etwas mehr als vier Prozent. Bei den Wahlen von 2018 sind indes 8,79 Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen verzeichnet worden.
Bisheriger Wahlkampf von Gewalt gekennzeichnet
Mit dem zweiten Wahlgang in vier Wochen bleibt die Atmosphäre im Land weiterhin gespannt. Zu den befürchteten gewalttätigen Auseinandersetzungen ist es am Sonntag zwar nicht gekommen. Der Wahlsonntag wurde vielmehr als friedlich eingestuft. Im Vorfeld sah es jedoch anders aus. Während des ersten Teils des Wahlkampfes hat es etliche Zwischenfälle und sogar Tote und Verletzte gegeben.
Mindestens 75 politische Ausschreitungen sind laut der Agência Pública seit Mitte August verzeichnet worden. Angegriffen wurden dabei nicht nur Anhänger der Kandidaten oder Politiker, sondern ebenso Journalisten und Mitarbeiter der Umfrageinstitute.
Offiziell verneinte Bolsonaro eine Polarisierung. Gleichzeitig betonte er aber unermüdlich, dass es ein Wahlkampf von „Gut gegen Böse“ sei. Pastoren der ihn unterstützenden evangelikalen Freikirchen gingen noch einen Schritt weiter. Kommunismus und links gerichtete Politik sei Teufelswerk, verbreiteten sie nicht nur in den Kirchen. Bolsonaro verstieg sich zudem zu Aussprüchen wie, es sei notwendig, „die linken Gegner auszurotten“.
Dazu, dass die von ihm auf verschiedene Weise angeheizte feindselige Atmosphäre zu Übergriffen und Gewalt geführt hat, hat er sich nicht geäußert. Still blieb er auch, als im Juni ein Bolsonarist ein Geburtstagsfest eines Lula-Anhängers überfallen und den Jubilar erschossen hat. Anfang September betrat im Nordosten Brasiliens ein Bolsonarist eine Kneipe, fragend, wer Lula-Anhänger sei.
Den 39-jährigen Mann, der sich als Lula-Wähler ausgab, erstach er. In einer ländlichen Region Mato Grossos war es eine Diskussion über Politik, die zu einem Mord führte. Dort erstach ein Bolsonarist einen Lulisten und versuchte danach, sein Opfer zu köpfen.
Verschiedene Politiker berichteten davon, während einer ihrer Wahlveranstaltungen von Bolsonaristen mit Waffen bedroht worden zu sein. Die Gewalttäter machten auch vor Frauen nicht halt. In einer Kneipe schlug ein Bolsonarist mit einem Holzstück auf eine Frau ein, die sich gegen Bolsonaro geäußert hatte.
Die Gewalt ging aber nicht nur von Rechts aus. Vor wenigen Tagen wurde das Auto einer der Ex-Frauen Bolsonaros beworfen, so dass ein Fenster zersplitterte und die Scherben die darin Sitzenden verletzte.
In 36 Prozent der Fälle waren die Gewalttäter nach einem Bericht der Agência Pública jedoch Anhänger Bolsonaros. In neun Prozent gingen die Angriffe von Anhängern Lulas aus. Bei der großen Mehrheit der Fälle war mangels Beweisen keine Zuordnung möglich.
Die gewalttätige Atmosphäre hatte viele Brasilianer dazu gebracht, sich nicht mehr zu Politik und Wahlen zu äußern. Bei einer Studie des Institutes Datafolha gaben 67,5 Prozent der Befragten an, dass sie Angst hätten, wegen ihrer politischen Auffassung tätlich angegriffen zu werden. Aber auch in vielen Familien wurde auf Schweigen gesetzt und vermieden, über Politik zu sprechen.
Anerkennung der Wahlen
Wie schon seit Wochen hat Bolsonaro auch noch am Sonntag versucht, die Wahlurnen und Auswertungen in Misskredit zu bringen. „Ich bin mir sicher, wenn dies saubere Wahlen sind, gewinnen wir heute mit mindestens 60 Prozent“, sagte er gegenüber Journalisten nachdem er in Rio de Janeiro seine Stimme abgegeben hatte. In einer Stellungnahme zum Wahlausgang gab es von ihm daraufhin angesprochen jedoch keine wirkliche Antwort.
Bolsonaro hat seit langem schon immer wieder die elektronischen Wahlurnen in Frage gestellt. Mit ihnen sei ein Betrug möglich, verbreitete er ohne jegliche Beweise. Von Experten und der Wahljustiz wurde dies mehrfach widerlegt. Selbst von UN-Vertretern hieß es, dass das brasilianische Wahlsystem eins der sichersten und transparentesten ist.
Ebenso hatte Bolsonaro versucht, das Militär bei der Auswertung der Wahlurnen einzubinden, angeblich, um die Sicherheit und Transparenz des Wahlsystems zu unterstützen. Nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses wollte einer der Journalisten von ihm deshalb auch wissen, ob er glaube, dass gemogelt worden sei. Bolsonaros Antwort: er werde die Auswertung der Militärkräfte abwarten.
Nach der Meinung Bolsonaros gäbe es jedoch nur dann einen Betrug, wenn er die Wahlen verliert. Die hat er jetzt mit dem Ergebnis des ersten Wahlganges zwar nicht gewonnen, aber auch nicht verloren.