Den zweiten Wahlgang hat Ex-Präsident Lula denkbar knapp mit einem Vorsprung von nur 1,78 Prozent gegenüber dem amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro gewonnen. Lediglich 2,1 Millionen Stimmen trennen die beiden. Lula präsentierte sich am Nachmittag des Wahlsonntags verhalten optimistisch. Er sprach vom wichtigsten Tag seines Lebens. Gegen 20 Uhr feierte er dann aber sichtlich gerührt und umringt von Anhängern seinen Sieg. Zu dem Zeitpunkt füllte sich die Avenida Paulista in São Paulo bereits mit zehntausenden Menschen zu einem Outdoor-Fest. Auch in Rio de Janeiro, Recife und anderen Hauptstädten des Landes feierten tausende Menschen auf Straßen und Plätzen.
Lula, der vor wenigen Tagen seinen 77sten Geburtstag feierte, ist der erste Präsident Brasiliens mit einer dritten Amtszeit. Als er Ende 2010 aus seinem Amt ausschied, zeigten Umfragen einen Beliebtheitsgrad von 80 Prozent. Der sank mit dem Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Energiekonzern Petrobras zwar, aber ganz an Popularität hat der charismatische Politiker nie verloren. Wenn er jetzt im Januar sein Amt antreten wird, wird er zudem der bisher älteste Präsident Brasiliens sein.
Leicht wird er es aber nicht haben. Im Kongress des Landes hat es bei den diesjährigen Wahlen einen Rechtsruck gegeben. Abgeordnete und Senatoren der ihn unterstützenden Parteien sind in der Minderheit. Auch unterscheidet sich die aktuelle wirtschaftliche Situation Brasiliens wesentlich von der vor 20 Jahren, als Lula seine erste Amtszeit angetreten hat.
Vize-Präsident Lulas wird Geraldo Alckmin, der in der Vergangenheit bereits in der Opposition zu Lula stand.
Die Wahlen waren in jeder Hinsicht besonders. Erstmals standen sich bei den Wahlen ein amtierender und ein Ex-Präsident des Landes gegenüber. Erstmals seit der Redemokratisierung des Landes verliert mit Bolsonaro jedoch ein amtierender Präsident seinen Wiederwahlversuch. Noch am Nachmittag des Wahlsonntags zeigte sich Bolsonaro zuversichtlich. Er gehe von einem Wahlsieg aus, sagte er Journalisten gegenüber. Dann war von ihm nichts mehr zu hören, weder eine Stellungnahme zum Wahlausgang noch eine Gratulation Lulas.
Der ultrarechte Bolsonaro war 2018 zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden, nachdem er 27 Jahre lang Bundesabgeordneter war. Sein kometenhafter Sieg vor vier Jahren war unter anderem vom Korruptionsskandal Lava-Jato um den halbstaatlichen Energiekonzern Petrobras angespornt worden. Lula war 2018 in diesem Zusammenhang wegen Korruption verurteilt und verhaftet worden.
Die Gerichtsurteile wurden jedoch vom Obersten Gerichtshof später wieder aufgehoben, weil das urteilende Gericht nicht zuständig gewesen sei. Hinzu kam ein Urteil, das den damaligen Lava-Jato-Richter und späteren Justizminister Bolsonaros, Sérgio Moro, für befangen erklärte.
Bolsonaros Amtszeit war von etlichen Skandalen überschattet, von Korruptionsversuchen im Bildungsministerium, dem Ignorieren der Wissenschaft und dem Herunterspielen der Coronavirus-Pandemie und ebenso von rasant ansteigenden Abholzungszahlen im Amazonas-Regenwald und den anderen Biomen des Landes.
Vorweisen kann er aber auch Erfolge. So ist die Wirtschaft bereits auf dem Weg der Erholung. Während Institute ursprünglich von einem Wachstum von 0,5 Prozent für 2022 ausgegangen sind, wurde dieses nach den jüngsten Ergebnissen von der Zentralbank auf 2,7 Prozent erhöht. Allerdings hat Bolsonaro im Versuch Wähler auf seine Seite zu ziehen, für einen angespannten Staatshaushalt 2023 gesorgt, in dem die laufenden Ausgaben gestiegen sind, und kaum Raum für notwendige Investitionen lassen.
Gesunken ist die Zahl der Arbeitslosen. Nach offiziellen Daten sind 8,7 Prozent der Brasilianer ohne Arbeit. Erreicht wurde damit die niedrigste Arbeitslosenzahl seit 2015. 2021 waren es 12,6 Prozent. Allerdings ist die Zahl der Arbeitsverträge kaum gestiegen. Ein historisches Hoch hat hingegen die Zahl der Arbeiter ohne jeglichen Vertrag erreicht. Von den 99,3 Millionen Arbeitern und Angestellten gelten zudem 39,4 Prozent als informell.
Gestiegen sind indes die Steuereinnahmen des Staates. Zurückgeführt wird dies unter anderem auf höhere Einnahmen bei der Besteuerung von Gewinnen aus Industrie und Dienstleistungen, Sektore, die sich zu erholen scheinen.
Langsam erscheint sich auch die Inflation zu erholen, die im April auf zwölf Prozent angestiegen war. Im August lag sie bei 8,73 Prozent.
Bei der Gewalt kann Bolsonaro ebenso eine positive Bilanz vorweisen. Die ist in den vergangenen Jahren gesunken. Nach einem Bericht 2021 vom Fórum Brasileiro de Segurança Pública wurden 22,3 Todesopfer durch Gewalt auf 100.000 Bewohner verzeichnet. Die Zahlen beziehen sich allerdings auf das Vorjahr. Im weltweiten Vergleich des Index der Gewaltopfer liegt Brasilien zudem weiterhin vorne auf dem achten Platz.
Eine der größten Herausforderungen Lulas wird die Bekämpfung der Armut und des Hungers sein. Nach einer Studie des Netzwerkes Rede Penssan sind 33,1 Millionen Brasilianer vom Hunger betroffen. In seiner Ansprache kurz nach Feststehen des Wahlergebnisses hob Lula die Bekämpfung der Armut auch als einen seiner Schwerpunkte hervor. Setzen will er allen voran aber auch nach der starken Polarisierung der vergangenen Jahre auf eine Vereinigung des Landes und eine Politik des Friedens, wie er sagte.
Doch der scheint noch fern. Noch in der Nacht von Sonntag auf Montag haben sich an verschiedenen Orten Brasiliens Lastwagenfahrer zu einem Streik vereint und Straßen blockiert. Einige von ihnen wollen das Wahlergebnis nicht anerkennen und fordern eine Militärintervention.
Kaum eine Wahl hat in Brasilien für so viel Aufmerksamkeit und eine so angespannte Atmosphäre gesorgt, wie diese
In den Wochen vor dem zweiten Wahlgang hat die Polarisation im Land weiter zugenommen. Einzelne politische Parteien rückten dabei in den Hintergrund. Es ging um rechts und links, um Lula und Bolsonaro. Die wurden ähnlich wie Fußballclubs bei einer Meisterschaft von ihren Fans blind angefeuert oder verteufelt. Die Programme der Kandidaten oder deren Einstellung zur Demokratie fanden hingegen kaum Beachtung.
In mehreren Fällen ist die angespannte Stimmung übergeschlagen. In einem Restaurant in Belo Horizonte wurde die Ex-Umweltministerin Lulas, Marina Silva, vor einer politischen Kundgebung des Ex-Präsidenten lautstark beschimpft. Anders als die Bundesabgeordnete und Bolsonaristin Carla Zambelli hat sie den Vorfall lediglich angezeigt. In einem Nobelviertel São Paulos hat Zambelli hingegen nach einem Streit mit einem schwarzen Journalisten, der sie beschimpft hat, die Pistole gezückt und ist dem Mann bis in eine Bäckerei hinterhergelaufen, um diesen zu einer Entschuldigung zu zwingen. Einer ihrer Bodyguards hat bei der Verfolgung auf der Straße, auf der zu dem Zeitpunkt etliche Passanten unterwegs waren, zudem einen Schuss in die Luft abgegeben.
Welche bizarren Ausmaße die politische Intoleranz in Brasilien angenommen hat, zeigt auch das Beispiel im Munizip Nossa Senhora de Aparecida. Dort war es Erzbischof Dom Orlando Brandes, der den Hass politischer Anhänger zu spüren bekam. Die pfiffen ihn aus und beschimpften ihn, als er über die Bekämpfung des Hungers sprach, von dem immer mehr Brasilianer betroffen sind. Nach jüngsten Studien kämpfen über 60 Millionen Brasilianer mit einer Ernährungsunsicherheit. Der Kampf gegen den Hunger war eins der wichtigsten Themen Lulas während des Wahlkampfes.
Kirchen und Unternehmer versuchen Stimmen zu erzwingen
Im Vorfeld wurden ebenso Fälle von Unternehmern bekannt, die ihre Angestellten zu einer bestimmten Stimmabgabe zwingen wollten. Als Druckmittel wurde unter anderem die Androhung einer Entlassung benutzt. In Minas Gerais mussten Arbeiter das Trikot der Nationalmannschaft anziehen, das von Bolsonaroanhängern bei ihren Manifestationen benutzt wird. In einem anderen Fall wurden die Angestellten dazu angewiesen, ihre Stimmabgabe zu filmen, um zu beweisen, dass sie für den „richtigen“ Kandidaten gestimmt haben.
Allein bis zum Donnerstag 27. Oktober sind beim Arbeitsministerium knapp 1.800 Anzeigen diesbezüglich eingegangen, 30 mal so viele wie im ersten Wahlgang. Ausgeangen sind die Einschüchterungsversuche von 1.388 Firmen. Die meisten Fälle wurden im Südosten registriert, in dem Bolsonaro beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereint hat.
Es waren nicht nur Unternehmer, die versucht haben einen Stimmenzwang durchzusetzen. Berichtet wird ebenso davon, dass Pastoren verschiedener Freikirchen versucht haben sollen, ihren Gläubigen vorzuschreiben, für Bolsonaro zu wählen.
Irregulare Kontrollen sorgen für Verkehrschaos und Zweifel
Laut Medienberichten hat es am Wahlsonntag in verschiedenen Städten Aktionen der Bundespolizei gegeben, den öffentlichen Nahverkehr zu behindern. Nach einem Erlass des Wahlgerichtes Tribunal Superior Eleitoral (TSE) im Vorfeld des Wahlsonntags sollten zu den Wahllokalen kostenlose Transporte möglich sein, um auch der ärmeren Bevölkerung ihre Stimmenabgabe zu ermöglichen.
Aktionen dr Verkehrspolizei zur Kontrolle der Omnibusse waren zudem eigentlich untersagt. Am Sonntagnachmittag wurden dann aber etliche Contra-Aktionen der Bundespolizei bekannt. Wie es heißt soll der Direkter der Bundesverkehrspolizei die Operationen angeordnet haben. Der hatte jedoch in den vergangenen Tagen in den sozialen Netzwerken Stimmen für Bolsonaro erbeten.
In Rio de Janeiro kritisierten Wähler eine Verringerung der Busflotte. Wegen Polizeikontrollen ist es außerdem zu einem Stau von 215 Kilometern gekommen. Videos zeigen auch, dass an der Brücke, die Rio de Janeiro mit Niteroi verbindet, das Soldaten positioniert waren.
Beschwerden gibt es aus mehreren Städten Brasiliens. Von den Polizeiaktionen am stärksten betroffen soll indes der Nordosten gewesen sein, der als Hochburg Lulas gilt. Die Zahl der Verkehrsoperationen soll dabei um 70 Prozent höher gewesen sein, als beim ersten Wahlgang.
Offiziell heißt es, die Verkehrkontrollen hätten sich auf die Verkehrstüchtigkeit der Busse und Wagen bezogen. Bei einer Pressekonferenz sagte TSE-Präsident, dass die Kontrollen keinen daran gehindert hätten, ihre Stimme abzugeben. Medien berichten jedoch von Beschwerden aus der Bevölkerung, die angaben nicht hätten wählen zu können.
Laut Moraes soll es noch eine genauere Untersuchung geben, ob ein Amtsmissbrauch vorliegt oder der Versuch einer bewussten Einflussnahme vorliegt. Angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet in Lula-Hochburgen verstärkt Kontrollen durchgeführt wurden, hegen jedoch viele Brasilianer Zweifel.
Kommunikationsminister versucht Wahlen in Misskredit zu bringen
Ein Versuch, die Wahlen allgemein in Frage zu stellen ging einmal mehr seitens Bolsonaros und eines seiner Minister aus. Vor wenigen Tagen hat Kommunikationsminister Fábio Faria behauptet, dass Radios im Norden und Nordostens Brasiliens die gesetzlich vorgeschriebene Werbezeit für Parteien zu Ungunsten Bolsonaros nicht eingehalten hätten. Bolsonaro verstieg sich sogar dazu mit einem Aufschub des zweiten Wahlgangs zu liebäugeln.
Laut den Behauptungen Fárias hätten viele Radios der Arbeiterpartei Lulas wesentlich mehr Zeit eingeräumt. Vorgelegt hat Fária später dazu einen Bericht eines bolsonaristischen Unternehmens. Der zeigte sich aber für nicht haltbar, weil teilweise falsche Zahlen und Informationen darin verwendet wurden. Später rückte Fária von seinen eigenen Behauptungen wieder ab. Mittlerweile laufen Ermittlungen, ob das Wahlkomitee Bolsonaros mit dem Bericht bewusst versuchen wollte, die Wahlen in Misskredit zu bringen, um das Ergebnis später anzweifeln zu können.
Religion und Fake News als Wahlkampfmittel
Neben einer extremen Polarisation war die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang ebenso von einer Flut von Fake News geprägt. Die wurden zum Teil frei erfunden. Zum Teil wurden aber auch tatsächliche Vorkommnisse oder Nachrichten soweit entstellt, dass sie einen der Kandidaten in ein falsches Licht rückten.
Bolsonaros Kampagne versuchte Lula mit Satanismus in Verbindung zu bringen und Lulas Kampagne Bolsonaro mit Kannibalismus. In einigen evangelikalen Freikirchen war gar von einem „heiligen Krieg“ die Rede. Verteufelt wurden dabei alle Gegner und Kritiker Bolsonaros, allen voran Lula. Gläubige und vor allem Anhänger Lulas berichten davon, aus Angst vor Nachstellungen während des Wahlkampfes Kirchen gemieden zu haben. In Fake News wurde behauptet Lula würde nach der Wahl die Kirchen schließen und Bolsanora die Renten kürzen.
Anders als 2018 versuchte dieses Mal das Wahlgericht TSE schneller dagegen einzuschreiten. Erlassen wurde dazu unter anderem eine Anordnung, nach der für Fake News mit gleichem oder ähnlichem Inhalt für eine Entfernung kein eigenes Gerichtsverfahren mehr notwendig war. Die Zeitspanne zur Entfernung der Fake News aus den sozialen Netwerken wurde zudem verringert.
Der Flut selbst hat dies kaum Einhalt geboten. Laut TSE-Präsident Alexandre de Moraes hat es von Samstag bis zum Wahlsonntag innerhalb von 36 Stunden Anordnungen zur Entfernung von 354 Fake-News-Boosts und 701 urls gegeben. Gesperrt wurden auch 15 Profile von Verbreitern gefälschter Nachrichten sowie fünf Gruppen des Message-Dienstes Telegram, die gemeinsam über eine halbe Millionen Mitglieder hatten. Die gerichtlichen Entscheide seien von allen Plattformen in weniger als einer Stunde entfernt worden, so Moraes.
Sertanejo gegen MPB – Prominente und Künstler mischen sich ein
Dieses Mal haben sich ebenso verstärkt Künstler, Sportler und Influencer für einen der Kandidaten eingesetzt, sei es mit Posts in den sozialen Netzwerken oder Aussagen bei Interviews. Fußballstar Neymar ließ sich dabei sogar für eine Politpropaganda Bolsonaros einspannen. Unter den Künstlern haben hingegen vor allem Musiker aus dem Bereich der Populären brasilianischen Musik (MPB), wie Gilberto Gil und Chico Buarque, Lula unterstützt. Bolsonaro konnte mit Unterstützung vieler Musiker aus dem Bereich Sertanejo rechnen, der Volksmusik Brasiliens, wie Leonardo und Zezé Di Camargo.
Auch Prominente, wie der ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofes Brasiliens (STF), Joaquim Barbosa, mischten sich ein. Barbosa sprach sich dabei für Lula aus. Bolsonaros Ex-Justizminister und Ex-Lava-Jato-Richter Sergio Moro legte hingegen seinen Streit mit Bolsonaro nieder, bei dem er dem Staatschef vorgeworfen hatte, sich bei der eigentlich unabhängigen Bundespolizei einzumischen und sein Amt zu missbrauchen. Jetzt stand der vor einem Monat zum Senator gewählte Moro jedoch plötzlich wieder auf Bolsonaros Seite.
Eine offizielle Stellungnahme hat es von Bolsonaro nach Veröffentlichung des Wahlergebnisses bisher nicht gegeben. Auch eine Gratulation ist ausgeblieben. Während viele seiner Anhänger Sonntagnacht noch auf ein Wort von ihm gewartet haben, sind in der Residenz des Präsidenten die Lichter ausgeschaltet worden.