Vor einem Jahr hat eine Schlammwelle von über 60 Millionen Kubikmetern alles Leben im über 600 Kilometer langen Rio Doce vernichtet, 19 Menschen getötet, Siedlungen zerstört und tausende Menschen die Lebensgrundlagen entrissen. Am heutigen Samstag (5.) jährt sich die Katastrophe des Dammbruches des Eisenrzabbauunternehmens Samarco unter deren Folgen nach wie vor tausende Menschen leiden.
Nichts hat in den Dörfern unterhalb des Dammes am 5. November 2015 auf die bevorstehende Tragödie hingewiesen (siehe Artikel). Auf dem Damm selbst waren hingegen Trupps unterwegs, um Ausbesserungsarbeiten vorzunehmen. Als sich die Katastrophe anbahnte haben die Verantwortlichen nur langsam reagiert. Zu spät haben sie die Dorfbewohner und mangels eines griffigen Katastrophenplanes lediglich mit einem Telefonanruf informiert.
In der Siedlung Bento Rodrigues ist der Alarm mündlich weiter gegeben worden. “Verlasst eure Häuser. Der Damm ist gebrochen“, hat eine Frau immer wieder gerufen, während sie mit dem Motorrad durch die Siedlung gefahren ist. Wer konnte, hat alles stehen und liegen gelassen und ist schnellstmöglichst auf höher gelegene Stellen der Umgebung gelaufen. Nicht jeder hat es geschafft, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Wenige Minuten später rollte die gewaltige Schlammlawine an, begrub Häuser, Schule, Kirche, Bäume, Gärten, Tiere unter sich. Über Wochen hinweg hat sich der Schlamm seinen Weg über 650 Kilometer hinweg durch den Rio Doce bis zum Meer gebahnt. Tonnen von Fischen sind im schlammigen Wasser qualvoll verendet.
Hunderte Hektar angebaute Felder und Weiden wurden mit dem Abraum aus dem Eisenerzwerk zugedeckt, zehntausende Menschen wurden von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Luftaufnahmen zeigten Bilder der Verwüstung. Das ganze Ausmaß wurde hingegen erst später bekannt.
Nach Monaten sickerte durch, dass es wohl schon Jahre vor dem Dammbruch Hinweise zu dessen Instabilität gegeben hat. Bekannt wurde ebenso, dass es bereits im Januar 2015 einen Dammbruch gegeben hat, der verheimlicht worden sei. Ermittelt wird mittlerweile gegen sechs Führungskräfte des Unternehmens wegen Mordverdacht und Umweltverbrechen. Vorgeworfen werden ihnen und weiteren Fachkräften zudem die Behinderung von Untersuchungsarbeiten sowie die Gründung einer kriminellen Vereinigung. Die zum brasilianischen Bergbaugiganten Vale und zur australisch-britischen BHP-Billiton gehörende Samarco streitet die Vorwürfe ab.
Vorgeworfen wird dem Unternehmen ebenso mangelnde Hilfeleistungen und ein Verschleppen der Wiedergutmachungsmaßnahmen. Währenddessen hat sich Leben und Alltag tausender Menschen für immer verändert. Seit einem Jahr kämpfen sie um ihre Rechte und um die Wiedergewinnung eines Stückchens Normalität.
Wert verlorener Leben
19 Menschen sind von den Schlammmassen verschüttet worden. Ihre Angehörigen sollten “Schadensersatz – Zahlungen“ erhalten. Die Verfahren dazu sind in das langsam mahlende Mühlwerk der brasilianischen Justiz geraten. Damit reiht sich zum Schmerz über den Verlust des Vaters, der Mutter, des Sohnes, der Tochter die gnadenlose Berechnung eines Wertes eines Menschen.
Erwirkt hat das Staatsministerium eine Vorauszahlung, bis die aufwendigen Gerichtsverfahren abgeschlossen sind. Den Familien der 19 Todesopfer ist damit eine Teilsumme von 100.000 Reais (umgerechnet derzeit etwa 28.200 Euro).
Keinerlei Chancen auf eine Entschädigung hat eine junge Frau, die bei der Katastrophe auf der Flucht vor der Schlammlawine ihr Kind verloren hat. Hochschwanger ist es am Tag der Katastrophe zu Komplikationen und zum Tod des Babys gekommen.
Laut brasilianischem Gesetz gelten totgeborene Kinder nicht als Personen. Sie dürfen keinen Namen erhalten und auch nicht beerdigt werden. Rechtlich gesehen existieren sie nicht. Es besteht deshalb keinerlei Anspruch auf eine Entschädigung. Was bleibt ist die Erinnerung an ein ungeborenes Leben, der zerstörte Traum von einer Familie, die Wut über die Achtlosigkeit der Verantwortlichen und über die Justiz.
Viele haben ihre Häuser verloren. Das Dorf Bento Rodrigues wurde gänzlich ausgelöscht. Erwischt hat es ebenso die Dörfer Paracatu und Gesteira. Autos, Fahrräder, Tische, Kühlschränke, Kleidung und alles, was eiligst zurückgelassen werden musste, hat die Flut mit sich gerissen oder ist unter gewaltigen Massen von Schlamm vergraben worden.
Vieles wurde unwiderbringlich ausgelöscht, auch Fotos von verstorbenen Eltern, Großeltern, von der Hochzeit und davon, wie das Dorf einmal war. Feuerwehrleute und ein Fotograf haben versucht, ein wenig davon zu retten. Sie haben Fotos ausgegraben und verdreckte Bilder von den Resten der Wände eingesammelt.
Aufwendig sind sie vom Fotografen, soweit möglich, restauriert und in Fotoalben eingeklebt worden. Zu Weihnachten 2015 hat er sie als Geschenk den Betroffenen überreicht. Darunter einzige Erinnerungsstücke von Menschen, die bei der Katastrophe ums Leben gekommen sind.
Zunächst sind die plötzlich Obdachlos gewordenen Männer, Frauen und Kinder in Hotels in der Stadt Mariana untergebracht worden. Ganze Familien mussten sich teilweise ein einziges Zimmer teilen. Erst später haben sie vorübergehend in Wohnungen und Häusern Unterkunft erhalten. Von Samarco wurden die Mietzahlungen garantiert. Die Prozesse über den Schadensersatz des verlorenen Hab und Guts stehen indes noch aus.
Um vorab zumindest einen Teil der Wiedergutmachung zu erreichen, hat das Staatsministerium mit dem Unternehmen ein Abkommen abgeschlossen. Nach diesem erhalten diejenigen, deren Haus zerstört worden ist vorab 20.000 Reais (umgerechnet etwa 5.640 Euro). Wer sein Wochenendhaus verloren hat, erhält 10.000 Reais (etwa 2.820 Euro). Beides sind Werte, mit denen weder ein Grundstück gekauft, noch ein Haus gebaut oder der Hausstand ersetzt werden kann.
Nicht alle werden in ihre Dörfer zurückkehren können. Das unter dem Bergbauabraum verschüttete Bento Rodrigues wird nie mehr Menschen beherbergen. Nach den jüngsten Plänen Samarcos soll ein neuer Damm errichtet werden, mit dem das einstige Dorf dann unter Wasser stehen würde. Für die ehemaligen Bewohner ist der Bau neuer Häuser und eines neuen Dorfes andernorts vorgesehen.
Bis dahin wird noch viel Wasser den Rio Doce hinabfließen. Übergeben werden sollen die neuen Bleiben erst ab 2018, drei Jahre nach dem Dammbruch, so denn alles nach Plan geht. Im ebenso betroffenen Barra Longa haben laut Samarco hingegen bereits 131 Familien neue Häuser erhalten.
Zerstörte Lebensgrundlagen
Weggeschwemmt wurden ebenso berufliche Lebensgrundlagen. Kleinunternehmer in den Dörfern, Fischer entlang des Flusses und Landwirte standen plötzlich ohne Einkommen da. Von Samarco heißt es, dass 7.811 Geldkarten zur Unterhaltshilfe verteilt worden sind.
Nach Schätzungen sollten es hingegen 11.000 sein. Männer und Frauen, die beispielsweise mit der Fischerei ein wichtiges Zubrot verdient aber ein anderes Haupteinkommen hatten, bleiben bisher außen vor, auch wenn ihnen damit ein Teil ihrer Einnahmen fehlt.
In Etlichen Fällen hat sich die Beihilfe zudem verzögert. Teilweise waren Betroffene Wochen und Monate auf die Hilfe von Verwandten und Freunden angewiesen, um überleben zu können, bis von Samarco endlich die Anerkennung erfolgt ist.
Die Zahlungen beschränken sich zudem auf einen Mindestlohn von 880 Reais (etwa 248 Euro), plus 20 Prozent für jedes Familienmitglied und einem „cesta básica“ (ein Warenkorb mit Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikel).
Kurz nach dem Dammbruch haben Samarco-Vertreter sofortige und unbürokratische Hilfen versprochen. Durchgesetzt worden sind die meisten jedoch erst durch den Einsatz von Staatsanwälten, die Gemeinschaftsprozesse angestrengt hatten.
Mit dem Jahrestag taucht ein neues Damoklesschwert auf. Die ursprüngliche Vereinbarung sieht die Zahlung von Einkommensbeihilfen für ein Jahr vor. Im Dezember läuft diese Frist ab. Vor Weihnachten soll es deshalb eine neue Anhörung geben, um eine Verlängerung zu diskutieren. Von Vertretern der “Fundação Renova” ist angekündigt worden, dass die Zahlungen verlängert werden. Die Stiftung ist von Samarco zur Wiedergutmachung der erlittenen Schäden eingerichtet worden.
Die sind nach wie vor unkalkulierbar. Für das Munizip war Samarco der wichtigste Arbeitgeber und Steuerzahler. Seit dem Dammbruch fehlen Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, da der Betrieb ausgesetzt worden ist. Ausstellungen hat es auch im angegliederten Werk in Espírito Santo gegeben, in welches das Eisenerz via Pipelines befördert worden ist. Von den 3.000 Arbeitern sind über tausend entlassen worden. Indirekt hat der eingeschränkte Betrieb nach Schätzungen zum Verlust von 12.000 Arbeitsplätzen geführt.
Für etliche der 228 entlang des Flusses verteilten Siedlungen war vor der Tragödie der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle. Mit der Braunfärbung des einst idyllischen Flusses sind Touristen in den vergangenen zwölf Monaten ausgeblieben. Wo vorher Erholungssuchende und Sportangler die Natur genossen haben, sind nach dem Dammbruch Hotels, Pousadas und Touristenboote leer geblieben.
UNO kritisiert mangelnde Maßnahmen
Ein Jahr nach dem Dammbruch leiden die Menschen entlang des Flusses noch an den Folgen. Von der UNO werden sowohl die zuständigen staatlichen Stellen als auch das Unternehmen Samarco und deren Eigner die australianische BH Billiton und die brasilianische Vale kritisiert.
Die eingeleiteten Maßnahmen würden nicht die Dimension der Katastrophe und deren sozialen, umweltlichen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen abdecken, heißt es in einem vor wenigen Tagen von der UNO veröffentlichten Schreiben.
Laut den UN-Spezialisten leiden auch nach zwölf Monaten noch sechs Millionen Menschen unter den Auswirkungen der Tragödie. Kritisiert wird ebenso das offizielle Monitoringverfahren der Wasserqualität des Flusses. Das findet nicht von staatlicher Seite statt, sondern unter Aufsicht der Samarco. Die spricht davon, dass sämtliche vorgegebenen Grenzwerte eingehalten würden.
Von der Universität Espírito Santo heißt es hingegen, dass bei den im April gezogenen Proben hohe Werte an Eisen, Aluminium und Mangan gemessen worden sind. Experten versichern, dass das Problem noch länger existieren wird, weil der am Boden abgesetzte und mit Mineralen aus dem Eisenerzabbau versetzte Schlamm bei Regen und Hochwasser wieder aufgewirbelt werde.
Bedroht sind davon nicht nur die über 600 Kilometer des Flusses, sondern auch die Meeresbewohner in der Umgebung der Mündung des Rio Doce. Ein weiteres Problem ist die Beseitigung der entlang der Ufer abgelagerten Bergbauabfälle. Geschieht dies nicht, könnten wieder Unmengen von Mineralen und Schwermetallen in Böden und Flüsse gelangen, wenn in wenigen Wochen die Regenzeit beginnt.
Während in größeren Siedlungen und Städten neue Systeme zur Trinkwassergewinnung erstellt werden und teilweise noch Tanklaster im Einsatz sind, um die Bevölkerung mit sauberen Trinkwasser zu versorgen, scheinen die ländlichen Flußanlieger und allen voran die in der Region lebenden Indios vergessen zu sein. Für die Indios ist der Fluss nicht nur heilig, sondern auch Lebensgrundlage.
Vor der Katastrophe hat er ihnen lebenwichtiges Wasser und Nahrung geliefert. Nach dem Unfall waren sie sich ohne Trinkwasser und Nahrungsgrundlage selbst überlassen. Dass es an entsprechenden Maßnahmen für die indigenen Völker und die Flußanlieger mangelt, wird ebenso von der UNO konstatiert. In der Veröffentlichung heißt es zudem, dass Vertreter der Menschenrechte in der Region verfolgt würden.
Kritik über mangelnde und nur schleppend vorangehende Maßnahmen gibt es von vielen Seiten, auch wenn es von Samarco heißt, dass bereits 1,1 Milliarden Reais (etwa 310 Millionen Euro) investiert worden seien. Ausgeblieben sind hingegen die Zahlungen zur Erforschung der Meereswasserqualität vor der Mündung des Rio Doce. Auch das Projekt zum Schutz der Meeresschildkröten scheint nicht in der Investitionsliste enthalten.
Um die Karettschildkröten vor dem verseuchten am Strand abgelagerten Schlamm zu schützen, haben ehrenamtliche Helfer die Eier dutzender Tiere ausgegraben und sie in einer anderen Region wieder in sauberen Sand einzugraben. Den Meeresschildkröten ist zudem Blut abgenommen worden. Mit den Proben sollte die Belastung der Tiere mit Schwermetallen herausgefunden werden. Seit einem Jahr warten diese mangels Geld jedoch auf die ausstehenden Analysen.
Seitens der Regierung war es in den vergangenen Monaten still um die Katastrophe. Vor wenigen Tagen hat Präsident Michel Temer in Brasília dann endlich ein Treffen der Gouverneure der beiden betroffenen Bundesstaaten, verschiedener Minister und der Direktoren der Samarco einberufen. Die Ergebnisse wurden in vagen Formulierungen gehalten. Er solidarisiere sich mit den Betroffenen, so Temer, der ebenso von der Notwendigkeit einer Koordination aller eingeleiteten Maßnahmen sprach.
Ein Heer von ungeklärten Fragen
Viel ist diskutiert worden in dem Jahr seit der Katastrophe. Viele Antworten stehen noch aus. Wissenschaftler fordern, die Entfernung des Abraumschlammes vom Flußbett des Rio Doce. Bei über 600 Kilometer Fluss und teilweise schwer zugänglichen Strecken kommt dies einer Sisyphusarbiet gleich.
Notwendig sind weitere Forschungen zur Bodenqualität der betroffenen Region und zur Wasserqualität des Rio Doce und seiner Zuflüsse. Selbst wenn gesetzliche Richtwerte eingehalten werden, befürchten Wissenschaftler über die Zeit hinweg eine Akkumulierung von Metallen in Fischen und Pflanzen. Aus gesundheitlichen Gründen und zum Schutz der stark dezimierten Fischbestände ist erst unlängst ein Fischverbot verhängt worden.
In Frage gestellt wird ebenso die in Brasilien übliche Praxis der Abraumdämme. Bei der Eisenerzauswaschung werden diese mit dem dabei erstehenden Schlamm erstellt. Der Dammbruch bei Mariana ist jedoch keineswegs der einzige Vorfall der vergangenen Jahren, auch wenn er der mit den am weittragendsten Folgen ist. Ingenieure fordern längst die Anlage anderer Dämme. Vorerst ist jedoch erst eine einstweilige Aussetzung neuer Genehmigungen von Abraumdämmen im Gespräch.
Vermutlich Jahre hinziehen werden sich auch die gegen Samarco angestrengten Verfahren. Etwa 18.000 Einzelprozesse, bei denen es um Schadensersätze und Wiedergutmachung geht, sind anhängig.
Solidaritätswelle
Die Schlammwelle hat aber auch eine Solidaritätswelle ausgelöst. Aus ganz Brasilien sind bei der Stadtverwaltung Marianas, zu dem die drei betroffenen Distrikte gehören, eingegangen. Insgesamt waren es 1,3 Millionen Reais (etwa 366.000 Euro).
Über 500 Familien haben nach einem Abkommen mit dem Staatsministerium daraus jeweils 2.300 Reais erhalten. Das mag wenig erscheinen. Es hat den Familien aber das Gefühl vermittelt, nicht alleine gelassen zu sein.
Von der Erzdiözese Mariana sind weitere 900.000 Reais (etwa 254.000 Euro) gesammelt worden. Das Geld soll Gemeinschaftsprojekten zugute kommen. Eins davon ist die Monatsschrift „A Sirene“, in der Informationen für die Betroffenen veröffentlicht werden.
Ein anderes ist die Einrichtung eines abendlichen Marktes. Mit ihm soll den Menschen der Region ermöglicht werden, selbst angefertigte oder angebaute Produkte zu verkaufen, um ihr Einkommen aufzubessern. Dahinter steht ebenso der Gedanke, ihnen wieder ein Leben auf eigenen Füßen zu ermöglichen.
Was Samarco und staatliche Einrichtungen versäumt haben, ist von einer Schule des Munizips Boa Esperança, im Bundesstaat Espírito Santo, geleistet worden. Gemeinsam mit ihren Lehrern haben Schüler nicht nur analysiert, welche Minerale und Schwermetalle im Becken des Rio Doce abgelagert und im Wasser enthalten sind.
Sie haben ebenso einen Wasserfilter aus Steinen, Sand und Mikropartikeln entwickelt, der den ländlichen Flußanliegern, den Ribeirinhos, die Gewinnung von sauberen Trinkwasser ermöglicht.