Über Jahrzehnte hinweg prägten grüne und orangefarbene „Riesenohren“ die Städte und Dörfer Brasiliens. Hinter den futuristisch anmutenden, aufgeständerten Ovalen aus den 1970er Jahren steckt nichts anderes als ein öffentliches Telefon. Sie vereinen Akustik-Wissen mit Funktionalität und Kommunikationstechnik und ersetzten in vielen Fällen den Telefonanschluß im eigenen Haus.
Ja, ersetzten. Ich schreibe bewusst in der Vergangenheit, weil heute die meisten von ihnen abgebaut sind oder nicht mehr funktionieren. Die öffentlichen Telefone haben ausgedient. Das gilt auch für Brasilien. In einem Land, in dem es mehr Handys als Einwohner gibt, werden Orelhões, wie die öffentlichen Apparate dort genannt werden, kaum mehr benötigt. Ganz abgesehen davon, dass jüngere Generationen zwar ihr Handy perfekt beherrschen, aber nicht mehr wissen, wie sie von einem Münzfernsprecher aus ein Gespräch führen können.
Die Orelhões sind einzigartig. Durch ihr modernes Design unterscheiden sie sich völlig von den eckigen Telefonzellen anderer Länder. Dass sie „Orelhão” (Riesenohr) heißen, verdanken sie ihrem Aussehen. Das erinnert tatsächlich an ein übergroßes Ohr. Also hat die Bevölkerung ihnen den Spitznamen Orelhão verpasst. Tatsächlich funktionieren sie auch ein wenig wie ein Ohr. Wer unter ihnen steht, ist vom Lärm der vorbeifahrenden Autos und Motorräder und anderen Geräuschen der Umgebung nahezu abgeschirmt. Gleichzeitig wird das eigene Gesprochene gebündelt und durch die Telefonleitungen klar vermittelt.
Erfolgszug der Orelhões
Die ersten Orelhões wurden 1972 in São Paulo und Rio de Janeiro aufgestellt. Öffentliche Telefone gab es zwar schon vorher. Die waren aber vor allem in Drogerien oder Bahnhöfen installiert. An Straßenecken oder in Parks waren sie indes nicht zu finden. Das sollte sich nach dem Willen der Regierung ändern.
Die ersten Tests mit Telefonzellen waren allerdings wenig erbauend. Ähnlich wie in Europa waren sie aus Kunstglas und geschlossen. Unter der tropischen Sonne verwandelten sie sich in stickige Zellen, die kaum angenommen wurden.
Das änderte sich mit der in Shanghai geborenen, brasilianischen Architektin und Designerin Chu Ming Silveira. Sie hatte 1971 die Aufgabe bekommen, öffentliche Telefone mit einem attraktiven Design zu kreieren, die entsprechende akustisische Konditionen aufweisen, sich im tropischen Klima nicht in einen Backofen verwandeln und bei der Bevölkerung auf Gefallen treffen. Gleichzeitig sollten sie billig und leicht zu fertigen sein.
Chu Ming Silveira entschied sich für die Form eines halben Eies. Das bot die besten akustischen Bedingungen. Gefertigt wurden sie aus Glasfaser und dann auf einem Metallrohr befestigt. Chu Mings Erfindung stieß schnell auf Gefallen bei der Bevölkerung. Die gab ihr umgehend Spitznamen. Waren mehr als eins der orangefarbenen, blauen oder grünen Halbeier auf dem Rohr angebracht, glichen sie Blumen und erhielten den Spitznamen Tulpe. Manche betitelten die Gebilde mit Astronautenhelm.
Letztlich setzte sich aber Orelhão, Riesenohr, durch. Das wurde auf verschiedenen Höhen angebracht, damit sie auch von Kindern, Rollstuhlfahreren, kleineren und großen Menschen genutzt werden konnten.
Die Brasilianer verliebten sich schnell in ihr Orelhão. Das lag nicht nur am Design, sondern ebenso an seinen Funktionen. Von ihnen aus konnte nicht nur angerufen werden. Vielmehr ließen sich die Orelhões auch anrufen. Und wer gerade keine Münze oder Telefonkarte zur Hand hatte, konnte „a cobrar“ anklingeln, ein R-Gespräch führen, bei dem der/die Angerufene die Gebühr übernimmt.
Während es in Deutschland nur für wenige Jahre ein paar dutzend anrufbare Telefonzellen gab, sah dies in Brasilien anders aus. Festnetzanschlüsse waren lange Zeit für die Mehrheit der Brasilianer unerreichbar teuer und auch nicht überall in ausreichender Zahl verfügbar. Viele der öffentlichen Telefone wurden deshalb so etwas wie ein mit anderen Familien geteiltes Haustelefon. Das stand zwar nicht im Hausgang oder Wohnzimmer, sondern vor dem Haus oder an der Straßenecke. Es erfüllte aber den gleichen Zweck und zusätzlich eine soziale Funktion.
Viele Unternehmen hatten sich ebenso auf die Orelhões eingestellt. Deren Telefone waren nicht nur mit numerischen Tasten versehen. Ihren Zahltasten waren ebenso Buchstaben zugeordnet. Da bot es sich an, dass Firmen ihren Namen in Telefonnummern umwandelten. Das hatte den Vorteil, dass sie so leichter zu merken waren.
Öffentliches Telefon als analoges Netzwerk
Etwa bis 2010 waren die Orelhões eins der gefragtesten Kommunikationsmittel Brasiliens. Auch ich habe von ihnen profitiert.
Ich lebe im Regenwald. In dem gibt es nur an wenigen Stellen, oben am Hügel ein Telefonsignal. Und wir hatten über Jahre hinweg keinen Strom und auch kein Internet im Haus. Die Orelhões in der nahe gelegenen Stadt waren deshalb auch für mich ein einfacher Weg, mich mit Freunden und Familie in der Heimat zu unterhalten.
Bei internationalen Anrufen waren die Telefonkarten schnell aufgebraucht. Nach einem „Ja, Hallo, wie geht es euch denn?“ und einem „Nein, mir ist alles Bestens“, ertönte meistens schon ein Piep in der Leitung, das Zeichen, eine neue Telefonkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz einzuschieben.
Zum Glück ging es mit den Orelhões aber auch anders. Die meisten waren mit einer eigenen Nummer ausgestattet. Wer wollte, konnte deshalb auch von zu Hause aus bei den Orelhões anrufen. Also habe ich für den nächsten Anruf Tag und Uhrzeit verabredet und die Telefonnummer des Riesenohrs durchgegeben. Zur verabredeten Zeit wartete ich dann in der Nähe des Apparates.
Jeder Apparat hat natürlich eine andere Nummer. „Meiner“ stand vor einer Bar. Nicht immer gelang es mir, als erste den Hörer zu erreichen, wenn es klingelte. Manchmal stürmte einer der Bargäste heraus und ergriff den Hörer noch bevor ich dazu eine Chance gehabt hätte. Der Gesichtsausdruck des Telefonisten verriet aber schnell, dass der Anruf nicht für ihn war.
„Da ist ein Gringo dran“, sagte er dann und aus der Bar erschallte es im Chor „Gringo“. Als Gringo werden in Brasilien Ausländer bezeichnet und irgendwo musste sich ja ein solcher befinden, der ausländisch versteht. Also wurde der Gringo/die Gringa lauthals gerufen, wie einst Eltern ihre Kinder gerufen haben, wenn der Anruf für sie war.
Aber auch, wenn ich als erste den Anruf entgegennehmen konnte, bildete sich manchmal um mich herum eine kleine Menschentraube, weil sie diese für sie so seltsam klingende Sprache, Deutsch, hören wollten. Anfangs war das eine kleine Attraktion.
Ein kleiner Junge gestand mir einmal, dass er genauso sprechen wolle wie ich, wenn er groß sei. Ich fragte ihn, warum und bekam zur Antwort, dass er das super fände, weil ihn dann keiner verstehen würde und er sich sozusagen in Geheimsprache mit seinen Spezis unterhalten könne.
Andere Male war der eingehende Anruf nicht für mich bestimmt. „Ist der Zé da?“, kam es aus der Hörmuschel. „Wer ist der Zé?“ „Frag in der Bar nach.“ Alle Augen der Barbesucher waren auf mich gerichtet, als ich sie mit der Frage „Wer ist der Zé“ betrat. Einer von ihnen winkte und bedeutete mir, dass ich seiner Frau ja nicht verraten solle, dass er in der Bar ist.
Mit der Zeit bildete sich eine Orelhão-Gemeinschaft. In deren Mittelpunkt stand nicht der Stammtisch, sondern das Stammtelefon. Jeder wusste, wer wer ist und auch wer für wen anruft. Da waren ich, die Gringa, Zé, Paulo, Lidia, und Renato, die Stammgäste der Bar, und ebenso Marini und Catia von den auf der anderen Straßenseite stehenden Kunsthandwerkerständen. Sogar ein paar der Anrufer lernte ich kennen und natürlich auch deren Geschichten.
Das Orelhão war so etwas wie unser analoges Netzwerk. Der Geburtstag, der bestandene Schulabschluss der Tochter oder des Sohnes, die Beendigung der Reparatur des Autos in der Werkstatt, das schon auf dem Tisch stehende Mittagessen und auch Todes- und Krankheitsfälle im Familien- und Freundeskreis wurden über das Telefon angekündigt. Kurz, in unserer Orelhão-Gemeinschaft wurde beinahe so gut wie alles geteilt.
Eine Orelhão-Gemeinschaft gab es natürlich nicht nur um die öffentlichen Telefonzellen der Stadt in unserer Nähe. Millionen Brasilianer nutzten das vor ihrem Haus, das an der Straßenecke, im Park, am Busbahnhof, vor dem Supermarkt oder am Strand stehende Orelhão, um anzurufen oder sich anrufen zu lassen. Ganz so als stände das Telefon in der eigenen Wohnung wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Informationen eingeholt, Besonderheiten angekündigt.
Vom dichten Netz zur Rarität
Über fünf Jahrzehnte hinweg prägten die orange- und türkisfarbenen, offenen Telefonzellen in der Form eines halben Eies die Stadtbilder Brasiliens. Im Jahr 2001 erreichte ihre Zahl den Höhepunkt. 1,38 Millionen Orelhões waren in den Dörfern und Städten in allen Ecken des Landes verteilt. Damit teilten sich etwa 125 Menschen eins der öffentlichen Telefone. Wie dicht das Netz der öffentlichen Telefone in Brasilien war, zeigt ein Vergleich mit Deutschland. Dort kam zum gleichen Zeitpunkt eine Telefonzelle auf etwa 600 Einwohner.
Nicht nur im eigenen Land genoss das Orelhão eine große Beliebtheit. Design und Funktionalität überzeugten so sehr, dass es sich zum Exportschlager entwickelte und in andere südamerikanische und ebenso afrikanische Länder verkauft wurde.
Der Apparat vor der Bar in unserer Stadt ist inzwischen längst verschwunden. Er ist bei weitem nicht der Einzige, den dieses Schicksal ereilt hat. In ganz Brasilien ist ihre Anzahl mittlerweile auf etwa 88.000 geschrumpft. Die einst überall präsenten Orelhões sind zur Rarität geworden.
Die übrig gebliebenen Orelhões werden aber durchaus noch genutzt. Laut der Aufsichtsbehörde für Telekommunikation (Anatel) sind im Jahr 2021 bei 62 Prozent der Orelhões täglich mindestens zwei Anrufe aus- oder eingegangen. Die meisten der Anrufe waren Kurzgespräche, die weniger als eine Minute gedauert haben.
Noch gibt es von der Anatel eine Anweisung, dass Regionen mit mehr als 100.000 Einwohner mit einem öffentlichen Telefon ausgestattet sein müssen. Auch gab es Modernisierungsversuche. In der südbrasilianischen Stadt Florianópolis wurde eins der Orelhões mit einem öffentlichen Wi-Fi ausgestattet. Dazu, ob das ihre Popularität erhöht hat oder das Wi-Fi tatsächlich genutzt wurde, gibt es bisher keine Aussagen. Allerdings wurde das Projekt nicht auf andere Städte ausgeweitet, was die Vermutung aufkommen lässt, dass es doch nicht so erfolgreich war, als dass sich seine Ausbreitung gelohnt hätte.
Vom Aussterben bedrohtes Kommunikationsmittel mit Fangemeinde
Auch wenn das Handy dem Orelhão den Rang abgelaufen hat, erhält die Erfindung aus den 70er Jahren dennoch Unterstützung aus der Bevölkerung. In Florianópolis gibt es einen Aufruf zum Erhalt des Telefons aus vergangenen Zeiten, um die Jugend daran zu erinnern, wie ihre Eltern sich über Kabel hinweg mit dem Hörer am Ohr unterhalten und informiert haben.
Sogar der Ruf die Orelhões zu schützen, in die Liste der Denkmäler aufzunehmen und zur Touristenattraktion zu machen, ist bereits laut geworden. Als Vorbild dienen dabei die englischen, roten Telefonboxen, die Poster, Kühlschrankmagnete und Sticker zieren und von denen Minimodelle als Andenken verkauft werden, während die wenigen noch vorhandenen Originale Touristen als Kulisse für Selfies dienen.
Der Nostalgie-Effekt wurde auch von den Organisatoren des Musikfestivals Rock in Rio erkannt und beim Rock in Rio 2022 auf der Rota 85 Orelhões aufgestellt.
Kunst am Telefon und Call Parade
In São Paulo hat eine andere Idee für Aufsehen gesorgt. Schon 2012 ist dort eine „Call Parade“ ins Leben gerufen worden. Die ist an der auf den Schweizer Künstler Pascal Knapp zurückgehende Cow Parade angelehnt. Statt Kuhskulpturen, die Künstler als Leinwand dienen, wird bei der Call Parade das Orelhão zur Malunterlage.
Diverse brasilianische Künstler und Designer waren aufgerufen, die Riesenohren der Stadt mit ihren Werken zu versehen und auffällig zu gestalten. Einhundert der Telefonzellen wurden verschönert. Obendrein gab es noch einen Routenplan, mit dem Touristen, Kunstfans, Neugierige und Einwohner die zu Kunstwerken geworden Orelhões besichtigen konnten.
In etlichen Städten Brasiliens ist es ebenso die Kunst, die die eher minimalistischen Orelhões zum Spektakel macht. In Cuiabá hat der Künstler Adir Sodré das Telefongehäuse in einen Tuiuiú verwandelt, eine Storchenart, die als Symboltier des Bundesstaates Mato Grosso gilt. Das Storchentelefon steht vor dem Regierungsgebäude des Bundesstaates.
Die Stadt São Lourenço (Bundesstaat Minas Gerais) wartet hingegen gleich mit einem Tele-Tierpark auf. Dort wird nicht mehr einfach in einem Orelhão telefoniert, sondern von einem Tukan aus, einem Jaguar oder Affen aus. Mit der Hilfe von Künstlern haben sich die Riesenohren in Riesentierskulpturen verwandelt. Auch in Santa Fé do Sul haben heimische Tierarten bei der Umwandlung der Orelhões als Vorlage gedient. Dort prägen nicht mehr bunte Ovale das Stadtbild. Es sind die Papageiart Ara, Reiher und ein gigantischer Fisch, die die Blicke auf sich ziehen und in ihrem Innenleben mit einem öffentlichen Telefon aufwarten.
Sammelobjekt
Nicht nur auf der Straße haben die Orelhões ihre Anhänger. Eine Nostalgiewelle macht sie langsam wieder zu begehrten Objekten. Für diejenigen, die sich ihr eigenes Riesenohr in den Garten stellen wollen gibt es Nachbildungen, die vor allem im Internet zum Kauf angeboten werden. In der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre war es nicht der Garten, der mit einem Orelhão bstückt wurde. Dort trohnt das Riesenohr auf der Freifläche der obersten Etage eines mehrstöckigen Hauses. Aufgestellt wurde es vom Besitzer des Appartments als Gag und ebenso zur Dekoration.
Es sind aber nicht nur die Apparate selbst, die zu Deko- und Sammelobjekten geworden sind. Gleiches gilt für die Telefonkarten, mit denen sie bestückt werden, um telefonieren zu können. Eine Seite der Karte war mit einem Bild bestückt. Bis vor wenigen Jahren wurde der Aufdruck immer wieder geändert. Mal waren es Museen oder historische Bauwerke, mal Landschaften oder Comiczeichnungen, mal die Fauna oder die Flora Brasiliens.
Sogar Festivitäten waren auf ihnen verewigt. Im Juni war es gut möglich, beim Kauf einer Telefonkarte am Zeitungsstand eine Telefonkarte zu erwischen, die den Festas Juninas gewidmet war, und im Dezember eine mit einem Weihnachtsbaum oder Nikolaus. Bei etlichen Brasilianern hat das die Sammelleidenschaft ausgelöst. Heute werden sie ähnlich wie Briefmarken und Münzen bei eigenen Sammlerbörsen ausgetauscht, verkauft, erworben oder einfach nur ausgestellt.
Ich gebe es zu, auch ich habe ein paar Telefonkarten aufgehoben. Eine davon zeigt einen Sonnenuntergang auf der Ilha do Mel, einer malerischen Insel, die vor der Meeresbucht liegt, an deren Ende sich unser Munizip schmiegt.