Im neuen Buch „Der Geist des Waldes“ prangern Davi Kopenawa und Bruce Albert den indigenen Völkermord an. Davi Kopenawa ist unruhig. „Wenn meine Gedanken traurig sind“ – sagt er – „frage ich mich manchmal, ob es später Schamanen geben wird. Vielleicht nicht“? Davi, der lebende Anführer der Yanomami, berichtet, dass diese Angst seine Gedanken beherrscht, und dass sie ihn immer in Angst und Schrecken versetzt.
Er hat fast immer Angst in der Nacht. „Aber wenn es passiert, werden unsere Kinder so in ihrem Geist verstrickt sein, dass sie die Geister nicht mehr sehen und ihre Lieder nicht mehr hören können. Ohne Schamanen, werden sie schutzlos sein und die Dunkelheit wird ihr Denken beherrschen.“ Er sieht das Schlimmste vor seinen Augen.
Er ist sich seiner Rolle bewusst, die ihm von Omama, dem heiligen Schöpfer des Yanomami-Volkes übertragen wurde, daher weiß er, dass im Moment alles, was er tun muss, darin besteht, die weisen Worte, die die alten spirituellen Führer, die Schamanen, an ihn weitergegeben haben, öffentlich zu machen – es gibt keine andere Lösung.
Wenn Davi Kopenawa spricht, sollte ganz Brasilien innehalten und ihm zuhören. Und die Welt sollte es auch. Denn von ihm hängt das Überleben seiner Familie, seines Volkes, der Ahnenrituale ab, der Kosmologie der Yanomami und des Amazonaswaldes, für dessen Erhalt sein Volk kämpft.
Dies bestätigt auch der französische Anthropologe Bruce Albert, ein Freund des Yanomami-Schamanen, mit dem er gemeinsam das Buch “Der Geist des Waldes“ (O Espirito da Floresta) geschrieben hat, welches soeben von der “Companhia das Letras“ veröffentlicht wurde. Es ist das zweite Werk, das von beiden Schriftstellern unterzeichnet wurde.
Das erste, “A Queda do Céu“ (Der Einsturz des Himmels) – ebenfalls veröffentlicht von der “Companhia das Letras“ – erschien 2010 zunächst in Frankreich und dann in Brasilien (übersetzt von der Anthropologin Beatriz Perrone-Moisés und fünf Jahre später veröffentlicht). Weit davon entfernt, ein Bestseller zu sein, oder gar eine leichte Lektüre, hinterfragte das Eröffnungsbuch des Duos die Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung, deren Anhänger Kopenawa als „Warenmenschen“ bezeichnet.
Nach und nach gewann das Buch Leser und Kritiker, die bereit waren, sich mit den zahllosen Lehren des Buches auseinanderzusetzen. Heute gilt es als eines der Werke, das, um Brasilien zu verstehen, so die “Vereinigung Portugal Brasil 200 anos“, zu den 200 wichtigsten Büchern anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeit des Landes gehört.
Bruce Albert lernte Kopenawa kennen, als er als junger Dolmetscher für die FUNAI (damals die Nationale Indianerstiftung und heute umbenannt in Nationale Stiftung für indigene Völker). Das erste Treffen war vor 50 Jahren. Seitdem haben sie eine emotionale Beziehung aufgebaut, welche die Grenzen von “The Fall of Heaven“ und jetzt von “The Spirit of the Forest“ überschreitet.
Im ersten und zweiten Buch offenbaren die Autoren ihre Empörung über das Entwicklungsprojekt des Landes, das nicht nur von der räuberischen Ausbeutung der Ressourcen des Amazonas angetrieben wird, sondern auch durch den Völkermord an den Ureinwohnern, den wahren Wächtern des Waldes. Dies ist die große Anklage, die die beiden Werke verbindet.
Der “Geist des Waldes“ vereint unveröffentlichte Texte, die zwischen 2002 und 2021 in zahlreichen Ausstellungen der “Fondation Cartier“ in Paris veröffentlicht wurden. Im Rahmen dieser Begegnungen konnten die Besucher Werke von Kulturschaffenden (wie den Fotografen Cláudia Andujar und Valdir Cruz; den Künstlern Adriana Varejão und Raymond Depardon), den Forschern (Hervé Chandès, Cédric Villani, Michel Cassé) und den Künstlern (Taniki, Joseca und Morzaniel Iramari), und des Yanomami-Kollektivhauses Watoriki (in der Serra do Vento) in dem David Kopenawa und seine Familie leben, begutachten. Watoriki liegt im äußersten Nordosten des Amazonasgebiets, zwischen den Flussgebieten des Rio Catrimani und des Rio Demini.
In dem neuen Buch agiert Albert als Übersetzer der indigenen Welt, aber immer mit Sanftmut und mit außerordentlichem Respekt. Er bittet fast um Erlaubnis und beschreibt das Lexikon der Yanomami, wobei er darauf achtet, die Bedeutung jeden Wortes zu zeigen, die Davi Kopenawa und seinem Volk wichtig sind. „Menschen“ zum Beispiel werden “Vanomami thë pë“ genannt, die natürlich nicht die einzigen sind, die im „Waldland“ (urihi) leben. Es gibt auch die Tiere (Varo pë), die Schamanen (Xapiri thë pë) und die weißen Menschen (Napë kraiwa pë).
„Wie die Menschen leidet auch das ‚Waldland‘ und empfindet Schmerz, wenn seine Bäume gefällt werden. Es stirbt, wenn es niedergebrannt wird, und weicht einem trockenen und heißem Land, in dem sich Ohinari a, der Geist des Hungers, niederlassen wird. Es heißt dann, dass „der Wald “urihi a në ohi“, und dass dieses böse Wesen Tag für Tag seinen schamanischen Staub in die Nasenlöcher der Menschen bläst. Es bläst sein schamanisches Pulver in die Nasenlöcher der Menschen, um sie zu schwächen, damit es sich von ihnen ernähren kann“, erklärt der Anthropologe gleich zu Beginn des Buches.
Es war die Aufgabe von Davi Kopenawa, der von Kindesbeinen an dazu prädestiniert war, spiritueller Führer seines Volkes zu werden, diese mögliche Brücke zwischen kosmologischem Wissen, dem Gebrauch starker Halluzinogene und der alltäglichen, stets bedrohlichen Realität. Die Schamanen beschwören durch Gesang und Tanz die Gegenwart von Wesen mythologischen Ursprungs herauf, immer mit dem Ziel, die Realität zu verstehen und die Menschen des Waldes vor den räuberischen Kräften
des weißen Mannes zu schützen.
Was Albert uns beibringen will, ist, dass der „Terra-Wald“ ein Wesen ist, das mit Empfindungsvermögen ausgestattet ist und dass er spürt, wenn ein Baum zu Boden fällt. Die Schamanen, wie Davi Kopenawa, können diese Klagen hören, wenn Stämme vertrocknen oder zusammenbrechen, denn sie stehen in ständigem Dialog mit Omama, dem Demiurgen der Yanomami. „Diese schamanischen Stimmen lassen uns verstehen, dass der Schutz der Wälder und die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten einen Verzicht erfordern – Verzicht auf unseren utilitaristischen Mythos einer vom Menschen getrennten ‚Natur‘, in der wir “die besitzenden Herren sind. Wir haben die Wälder in eine Wüste verwandelt, während wir aus Gewissensbissen die letzten ‚wilden‘ Fragmente in Museen ansehen können“, sagt Bruce Albert.
Die tödlichen Epidemien
Die Yanomami stellen sich den Schikanen und der Zerstörung mutig entgegen. In “Der Geist des Waldes“, stößt der Leser auf zwei emblematische Texte, einen geschrieben von L. Yanomami, Davi Kopenawas Schwiegervater, und einen anderen von Davi selbst. Beide befassen sich mit Epidemien, mit auffallenden Kontrasten, aber einzigartigen Lehren. In der ersten spricht L. Yanomami über die verschiedenen Krankheiten (wie z. B. Masern), die von den Weißen während der ersten Kontakte in den 1920er Jahren eingeschleppt wurden.
Davi Kopenawa hingegen spricht über die Covid-19-Epidemie hundert Jahre später. „In der Vergangenheit starben viele unserer Vorfahren an Epidemien. Sie haben uns also gelehrt, wie man stirbt“, und der spirituelle Führer erklärt weiter, dass das neue Coronavirus nicht so besorgniserregend sei wie eine andere, aktuellere Bedrohung.
Denn was uns heute wirklich Angst macht, sind die Goldsucher und die Goldwaschunternehmen, die das Land verwüsten, den Wald abholzen und die Flüsse mit Schlamm und Quecksilber vergiften; diejenigen, die unsere Wälder mit Malaria verseuchen, mit der Malaria, die alle unsere Kinder unaufhaltsam tötet“!
Im Buch “Der Einsturz des Himmels“ gehen Kopenawa und Albert der Frage nach, wie die indigene Weltsicht, in der Menschen und Nicht-Menschen, Geister, Tiere und Pflanzen, die von Omama geschaffene Natur bilden; die Spur der Zerstörung durch Kontakt mit den Weißen voraussagt – wie das tragische Massaker von Haximu im Jahr 1993 – und es erklärt den Pakt, den die beiden geschlossen haben, um den Völkermord an den Yanomami anzuprangern. In den seit 1992 abgegrenzten Gebieten, die das indigene Territorium der Yanomami (9.665.000 Hektar) bilden, kämpfen in Brasilien und Venezuela Yanomamis um ihr Überleben, inmitten von Bedrohungen, die nie aufgehört haben.
Im Buch “Der Geist des Waldes“ führen Davi Kopenawa und Bruce Albert einen Dialog von hoher Komplexität, jeder auf seine Weise, um die Welt zu warnen, dass die unendlichen Vermittlungen mit anderen Lebensformen einen Preis fordern werden, wenn wir darauf bestehen, ihren Aufrufen, die Zerstörung Amazoniens zu stoppen, nicht zu folgen. Beide offenbaren eine Skepsis, dass sehr wenig getan wurde, um dieses tragische Schicksal umzukehren.
Tragisches Schicksal
Es ist bezeichnend, dass ein zweites Werk aus dieser intellektuellen Begegnung zwischen dem Führer der Yanomami und dem französischen Anthropologen kurz nach dem Bekanntwerden des Völkermordes am Volk der Yanomamis veröffentlicht wurde. Im Februar mobilisierte die föderale Regierung die Bundespolizei, die Streitkräfte, die IBAMA, die FUNAI, die “Nationale Einheit für öffentliche Sicherheit“ und das Justizministerium, um den illegalen Goldabbau im indigenen Yanomami-Territorium zu demobilisieren, der in den letzten Jahren zugenommen hat.
Der Goldabbau hat zu Ausbrüchen von Malaria und einer schweren Gesundheitskrise unter der indigenen Bevölkerung verursacht. Es war notwendig, Feldlazarette einzurichten, um der indigenen Bevölkerung zu helfen. Die föderale Operation kam noch rechtzeitig, um den Ausbruch von Malaria zu verhindern. Kopenawas andere Aussage: „Es war möglich, dass wir ohne euch sterben würden, ohne dass ihr es überhaupt bemerkt hättet“, warnte er.
”O Espírito da Floresta°: von Davi Kopenawa und Bruce Albert.
Companhia das Letras: 234 Seiten, 60 Reais
Original: Eduardo Nunomura AmazoniaReal
Deutsche Bearbeitung/Übersetzung: Klaus D. Günther
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